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Ding patzt in Zeitnot - Nepomniachtchi gewinnt erneut
Ian Nepomniachtchi. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Ding patzt in Zeitnot - Nepomniachtchi gewinnt erneut

JackRodgers
| 0 | Berichterstattung von einem Schach-Event

In der siebten Partie der FIDE Weltmeisterschaft 2023 sorgte Ding Liren für eine weitere Überraschung, indem er sich dazu entschied, Nepomniachtchis Eröffnungszug 1.e4 mit der französischen Verteidigung zu bekämpfen. Der Chinese konnte sich auch eine vielversprechende Stellung, in der alle drei Ergebnisse möglich waren, aufbauen, verlor aber dann in großer Zeitnot völlig die Übersicht und gab drei Züge vor der Zeitkontrolle mit 3 Sekunden auf der Uhr auf.

Damit liegt Ian Nepomniachtchi zur Halbzeit der Weltmeisterschaft mit 4:3 in Führung.

Die achte Partie beginnt am Donnerstag, dem 20. April, um 11.00 Uhr.

So könnt Ihr bei der FIDE Weltmeisterschaft 2023 zusehen:
Wir übertragen alle Partien der FIDE Weltmeisterschaft 2023 mit Kommentaren von Steve Berger und interessanten Gästen wie Jan Gustafsson und Fiona Steil-Antoni auf Chess.com/TV, Twitch und YouTube. Die englischsprachige Übertragung findet Ihr auf https://www.youtube.com/@chesscomlive
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der siebten Partie:
Kommentatoren: Steve Berger und Jan Gustafsson

 

Ding Liren, der laut Kommentator Anish Giri eigentlich für sein vorhersehbares Repertoire bekannt ist, verblüfft die Schachwelt und seinen Gegner weiterhin. In der siebten Runde vermied er Nepomniachtchis giftige Varianten in der spanischen und italienischen Eröffnung, indem er nach dem Eröffnungszug seinen Arm ausstreckte und den e-Bauern ergriff. Zur großen Überraschung des Russen landete der Bauer aber nicht auf dem Feld e5, sondern auf dem Feld e6. Die französische Verteidigung.

Damit war bereits klar, dass wir auch in der siebten Partie eine Stellung zu sehen bekommen würden, die keiner der vorherigen Stellungen bei diesem Duell ähnelt.


Die französische Verteidigung wurde 45 Jahre lang nicht mehr bei Weltmeisterschaften gespielt. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Kommentator Daniel Naroditsky stellte sofort fest, dass die französische Verteidigung seit der WM 1978 zwischen Anatoly Karpov und Viktor Korchnoi bei Weltmeisterschaften nicht mehr gespielt worden war und Giri vermutete sofort, dass es wohl eine weitere Idee von Dings Sekundanten Richard Rapport gewesen sein könnte.

Ding bestätigte bei der Pressekonferenz, dass er Rapport vor der Partie halb im Scherz die französische Verteidigung vorgeschlagen hatte und sein Sekundant dann darauf bestanden hatte, diese Eröffnung zu versuchen.

Nepomniachtchi verbrachte untypischerweise viel Zeit mit seinen Eröffnungszügen. Er wählte mit 3.Sd2 einen Zug, den die Kommentatoren als "schüchtern" bezeichneten. Da Ding selbst diese Eröffnung seit 2013 nicht mehr in klassischen Partien gespielt hatte, stellte Giri fest, dass Nepomniachtchi in diesen Varianten wahrscheinlich eine gründliche Vorbereitung fehlt, während Ding mit den resultierenden Stellungen keine große Erfahrung hat.

Der Sieger des Kandidatenturniers war der erste, der seine Emotionen offen zeigte und sein übliches Selbstvertrauen und seine schnellen Eröffnungszüge gegen einen düsteren Blick eintauschte und seinen Kopf in seinen Händen vergrub.

Nepomniachtchi wurde in der Eröffnung kalt erwischt. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Im 12. Zug entschied sich Nepomniachtchi für die Neuerung 12.Ld3, was eine Verbesserung gegenüber der Partie Kruppa-Dokhoian, die Schwarz gewonnen hatte, darstellte. Sein immenser Zeitverbrauch war aber ein Zeichen dafür, dass er improvisierte. "Mit so einem wilden Schlagabtausch habe ich natürlich nicht gerechnet", beteuerte der Weltranglisten-Zweite später.

Nachdem Nepomniachtchi den frühen Tango im Zentrum überstanden und Ding den provokanten Zug 13.Sf6 gespielt hatte, spürte er, dass er die Art von Stellung bekommen würde, die er im bisherigen Verlauf der WM immer genossen hatte und begann sich auf seinem Sessel nach vorne zu lehnen.

Als sich Ding dann gleich mehreren gefährlichen taktischen Ideen ausgesetzt sah, verteidigte er sich mit dem Zug 16.Rad8 sehr genau, hielt die Stellung am Leben und ermutigte Nepomniachtchi, eine Qualität auf Kosten seiner Initiative zu gewinnen. Naroditsky fand, dass die Stellung wie aus einem Lehrbuch von Dvoretsky aussah, aber Weiß lehnte die Gelegenheit ab und beschloss stattdessen, mehr Figuren in den Kampf zu werfen und bot Ding seinerseits einen vergifteten Bauern an.

Mehrere lange Überlegungen in dieser Zeit brachten die Nummer drei der Welt in zunehmende Zeitnot und plötzlich hatte der Chinese nur noch 26 Minuten auf der Uhr und musste noch 21 Züge ausführen, um die erste Zeitkontrolle zu erreichen! Bei der Pressekonferenz sagte Ding: "Ich konnte während der Partie einfach nicht die richtige Fortsetzung finden."

Genau zum richtigen Zeitpunkt fand Ding aber dann seinen Groove und spielte in den Zügen 22 und 23 aufeinanderfolgende brillante Züge (laut der Partieanalyse von Chess.com). Er opferte eine Qualität für ein starkes Läuferpaar, was wieder an die vorher erwähnte Partie von 1987 erinnerte, die Ding aber laut seiner eigenen Aussage nicht kannte.

Nachdem Nepomniachtchi in die Denkfabrik gegangen war und seinen immensen Zeitvorteil genutzt hatte, schien er seine Stellung zu stabilisieren, indem er ein Läuferpaar tauschte. Dings schwarzfeldriger Läufer dominierte jedoch weiterhin das Brett und Nepomniachtchi sagte später: "Die ganze Partie war extrem scharf und extrem angespannt", und gab auch zu, dass "jede Seite bekam, was sie wollte". Das war vielleicht eine Anspielung auf die Komplikationen, die auftraten, als Ding begann, mit klinischer Präzision zu spielen.

Die siebte Partie war zweifellos eine der intensivsten der jüngeren Geschichte. Foto: Maria Emelianova.

Im 32. Zug, als sich Schwarz bereits einen gewissen Vorteil erspielt hatte, geschah das Unvorstellbare. Ding schätzte die Stellung falsch ein und sagte sogar noch in der Pressekonferenz: "Wenn ich hier nur auf Tf1 warte, ist meine Stellung hoffnungslos." Offensichtlich hatte er den Zug 32.Le5, der Weiß ins Hintertreffen gebracht hätte, einfach nicht gesehen.

Um die Sache noch schlimmer zu machen, verbrannte Ding dann fünf seiner verbleibenden fünfeinhalb Minuten für einen Zug, der die Schachwelt verblüffte und die Chess.com Kommentatoren zu der Behauptung veranlasste, dass sich Ding einfach verrechnet hatte. Als er später darauf angesprochen wurde, sagte er nur: "Ich habe in dieser Partie nicht so schlecht gespielt, aber am Ende habe ich sie einfach vermasselt."

Da es bei dieser WM kein Inkrement gibt und auf seiner Uhr nur noch 45 Sekunden übrig geblieben waren, verpatzte Ding die Partie und gab im 37. Zug, also 3 Züge vor der Zeitkontrolle, mit drei Sekunden auf der Uhr auf.

Nach 37 Zügen hatte Ding seine Bedenkzeit aufgebraucht. Foto: Maria Emelianova.

Großmeister Rafael Leitao hat die Partie für uns analysiert.

Eine herzzerreißende Niederlage für Ding Liren und eine weitere entscheidende Partie in einer der blutigsten Weltmeisterschaften der Schachgeschichte. Man könnte argumentieren, dass das Verteidigungsniveau schlecht ist und dies der Hauptgrund dafür ist, dass es so viele Siege gibt. Ich stimme diesem Argument zu, aber genau das sehe ich als Zuschauer gerne. Spannende Partien, bei denen einer der Spieler unter dem Druck zusammenbrechen kann. Ich sehe mir das lieber an als eine Serie perfekter Partien, die alle Remis enden.

Hier haben wir Euch eine Playlist unserer YouTube-Videos über den bisherigen Verlauf der WM zusammengestellt.

Und weil ja nicht alle gut genug Englisch sprechen, um diese Videos wirklich zu verstehen, hat The Big Greek die Partie auch auf Deutsch analysiert. Über eine "Like" unter dem Video würde er sich sicher freuen!

Dieses Ergebnis ist für Ding erneut verheerend, aber er hat bei dieser WM schon mehrfach bewiesen, dass er sich von solchen Situationen erholen kann. Da beide Spieler auf der Bühne in Astana eine emotionale Achterbahnfahrt erleben, ist es faszinierend, nicht nur die Partien, sondern auch die Psychologie des Kampfes mitzuerleben.

Großmeister Levon Aronian ist einer von vielen, der seine Begeisterung über die Intensität und Schönheit dieser Weltmeisterschaft auf Twitter teilt.

Mit fünf von sieben gewonnen Partien haben wir einen historischen Moment erreicht. Das letzte Mal, dass fünf der ersten sieben Partien bei einer Weltmeisterschaft gewonnen wurde, war 1958 bei der WM zwischen Mikhail Botvinnik und Vasily Smyslov (die WM 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky nicht mitgezählt, da es hier ja einen kampflosen Sieg gab). 

Als Nepomniachtchi von Mike Klein gebeten wurde, diese WM mit dem Duell von 2021 gegen Magnus Carlsen zu vergleichen, antwortete der Russe: "Ich glaube, dass niemand mit so vielen Siegen gerechnet hat... Vielleicht werden einige jetzt zumindest für eine Weile damit aufhören, das klassische Schach als Tod zu bezeichnen." Und dann fügte er noch hinzu: "Ich bin mir nicht sicher ob es Spaß macht, aber es ist auf jeden Fall aufregend."

Wir haben also keine Ahnung, was uns in der achten Partie, die am Donnerstag gespielt werden wird, erwartet. Aber eines ist sicher. Die gesamte Schachwelt freut sich auf diese Partie!

Der Spielstand nach 7 von maximal 14 Partien

Name Elo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Punkte
Ding Liren 2788 ½ 0 ½ 1 0 1 0 . . . . . . . 3
Ian Nepomniachtchi 2795 ½ 1 ½ 0 1 0 1 . . . . . . . 4

Die FIDE-Weltmeisterschaft 2023 ist das wichtigste Schach-Event des Jahres und entscheidet, wer der nächste Weltmeister wird. Ian Nepomniachtchi und Ding Liren spielen ein Match, um zu entscheiden, wer Carlsens Thron übernimmt, nachdem der aktuelle Weltmeister seinen Titel niedergelegt hat. Das Match ist mit 2 Millionen Euro dotiert und wird über 14 klassische Partien gespielt. Der erste Spieler, der 7.5 Punkte erzielt, gewinnt.


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