Kandidatenturnier, Runde 6: Nepomniachtchi und Caruana gewinnen spektakuläre Partien
Ian Nepomniachtchi hat beim Kandidatenturnier 2022 bereits seine dritte Partie gewonnen, aber da Fabiano Caruana ebenfalls gewinnen konnte, führt der Russe die Tabelle nur mit einem halben Punkt Vorsprung an. Während der Tabellenführer Jan-Krzysztof Duda mit einem beeindruckenden Angriff am Königsflügel überrollte, musste Caruana einfach nur ein seltsames Qualitätsopfer von Alireza Firouzja widerlegen, um den vollen Punkt einzustreichen.
So könnt Ihr das Kandidatenturnier 2022 verfolgen
Wie übertragen das Kandidatenturnier 2022 täglich ab 15.00 Uhr. Die deutschsprachige Übertragung findet Ihr auf Chess.com/TV, unserem Twitch-Kanal und auf YouTube, die englischsprachige Übertragung auf YouTube.com/ChesscomLive.
Alle Partien des Kandidatenturniers findet Ihr hier auf unserer Live Events Plattform.
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der sechsten Runde mit unseren Kommentatoren Steve Berger und Vincent Keymer.
Nach dem "wohl unausgeglichensten Tag, den wir in Madrid hatten", wie es Danny Rensch formulierte, fällt hier und da schon der Begriff Kopf-an-Kopf-Rennen. Dafür ist es vielleicht etwas früh, aber nach dieser Runde sieht es wirklich so aus, als würden Nepomniachtchi und Caruana den Turniersieg unter sich ausmachen und auch Sam Shankland schätzt in seiner Analyse der Partie des Tages die Chancen, dass einer der beiden dieses Turnier gewinnt, sehr hoch ein.
Abgesehen von der Tabellensituation (Firouzja auf dem letzten Platz? Ufff!) war dieser Donnerstag auch allgemein gesehen ein absolut fantastischer Schachtag. Wir hatten verrückte Taktiken, Opfer, Königswanderungen, Dauerschachs, verpasste Siege... einfach alles.
Radjabov-Rapport ½-½
Das letzte Mal, dass Teimour Radjabov eine klassische Partie gewonnen hat, war am 2. Oktober 2019 im Finale des Weltcups Ding Liren. Seitdem hat 34 Partien in Folge nicht gewinnen können, aber diese Serie hätte heute eigentlich enden müssen. Völlig unbewusst, dass sein Gegner gerade einen Fehler gemacht hatte, spielte der aserbaidschanische Großmeister nicht den Killerzug, sondern erzwang stattdessen ein Remis.
Die Partie war von Anfang an spannend, denn Radjabov hatte sich gegen Rapports Taimanov-Sizilianer, den der ungarische GM nun in allen drei seiner Schwarzpartien gespielt hat, etwas einfallen lassen.
Radjabov has cooked up something spicy for Rapport in the opening today 🔥!#FIDECandidates pic.twitter.com/6qe8Jl8tEW
— ChesscomLive (@ChesscomLive) June 23, 2022
Aber auch Rapport hatte seine Hausaufgaben gemacht. 15 Züge lang folgten die Spieler eine Schnellschachpartie zwischen Maxime Vachier-Lagrave und Nepomniachtchi aus dem letzten Jahr, bis Radjabov die Neuerung 16.Lg6+ entkorkte.
Rapport war darauf vorbereitet und spielte schnell den bemerkenswerten Zug 16…Kd7, was Radjabov veranlasste, zum ersten Mal in der Partie so richtig lange nachzudenken: Nach 27 Minuten hatte er sich für 17.Lg5 entschieden und das brachte jetzt auch Rapport zum Nachdenken und als er nach 17 Minuten seine Antwort gefunden hatte, ging die Partie richtig los. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir aber bereits eine Stellung auf dem Brett, zu der man nur sagen kann: "Macht das bitte nicht nach!"
The draw percentage may be 80% at #FIDECandidates but the @rjrapport castling percentage is only 50%
— Mike Klein (@ChessMike) June 23, 2022
Photo: @keti_chess pic.twitter.com/gzOOhir6cn
Ein paar Züge später wurden die Damen getauscht, aber das bedeutete nicht, dass die Partie jetzt in ruhigeren Gewässern war.
Die Stellung nach 25...Sg4!?
Rapports 25…Sg4 war ein schöner Zug. Es lässt den Turm en prise auf b2 stehen, aber das Schlagen würde mit 26…Txf2+ und 27…Txb2 beantwortet werden. Das hätte Schwarz genügend Kompensation gegeben, aber laut Engine auch nicht mehr als das.
Es sah also gefährlicher aus als es in Wirklichkeit war und deshalb entschied sich Radjabov für eine andere Variante, die auch einige komplizierte Taktiken beinhaltete. Die Engine sagte wie so oft immer wieder 0,00 und das resultierende Endspiel war tatsächlich ungefähr ausgeglichen.
Ein paar Züge später schien Schwarz die etwas besseren Chancen zu haben, aber er hätte den präzisen Zug 36…Tf8 spielen müssen, um die f-Linie zu kontrollieren. Mit 45 Minuten auf der Uhr verlor Rapport sein Gefühl für Gefahr und sein Zug 36…Tg4 ermöglichte es Radjabov, diese f-Linie zu erobern. Jetzt hätte 37…c5 immer noch ausgereicht, um ein Remis zu halten und auf h4 zu nehmen hätte eigentlich verlieren sollen.
Und jetzt zeigte Radjabov ein extrem schlechtes Handling seiner Bedenkzeit. Da ihm noch fünf Minuten für nur zwei Züge blieben, dachte er nur 16 Sekunden lang über seinen 39. Zug nach und sparte sich den Rest seiner Bedenkzeit für den 40. Zug auf. Und so spielte er 39.Tf7, obwohl 39.Lh2 gewonnen hätte, da dieser Tf7-Zug im nächsten Zug genauso vernichtend gewesen wäre, ohne vorher die eigene Figur zu verlieren. Hier gilt ein klassisches Sprichwort im Schach: Die Drohung war stärker als die Ausführung.
In den Kameras sah es so aus, als hätte ihn Rapport sofort nach der Partie auf seinen verpassten Gewinn hingewiesen. Radjabov sah verwirrt aus, atmete aber nach dem Thriller von einer Partie dennoch erleichtert auf.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Nakamura-Ding ½-½
Die allererste Partie zwischen den beiden beim Sinquefield Cup 2016 hatte Nakamura gewonnen, aber danach spielten Nakamura und Ding sechsmal in Folge Remis. Und da beide Spieler heute hervorragendes Schach zeigten, sind es jetzt sieben Remis in Serie. Im Grunde genommen war dies die einzige Partie des heutigen Tages, bei der sich keiner der Spieler jemals einen Vorteil erspielen konnte.
Mit 11.Lxc6 wich Nakamura von Dings Partie in der zweiten Runde gegen Duda ab. Der Pole hatte hier den Zug 11.Sf1 gespielt. Der Chinese war dann der erste, der sich einen neuen Zug einfallen ließ: 15...Da7 statt 15...Db7 wie in einer Partie zwischen Giri und Anton, die 2019 in Batumi 2019 gespielt worden war.
Während Ding anfing, fast bei jedem Zug zu überlegen, spielte Nakamura bis zum 25. Zug weiter sehr schnell.
"Wie viel Vorbereitung hat Hikaru hier auf das Brett gebracht?", fragte sich Rensch in der Chess.com-Übertragung. Nun, wie Nakamura in diesem Video selbst erklärt, war es eine Menge.
Wirklich bemerkenswert ist, dass Nakamura, obwohl er mit vielen Großmeistern in Kontakt steht, immer noch mit Kris Littlejohn, einem Spieler mit einer ziemlich bescheidenen Elo von 2156, der aber als Experte für die Arbeit an Eröffnungen mit Engines gilt, zusammenarbeitet. Nakamura und Littlejohn bilden schon seit über einem Jahrzehnt ein ziemlich erfolgreiches Tandem.
Laut der Engine hatte er vielleicht auf dem Brett nicht viel erreicht, aber auf der Uhr hatte Nakamura im 25. Zug einen großen Vorteil: Eine Stunde und 52 Minuten gegen 45 Minuten.
Das hinderte Ding aber nicht daran, hervorragende Züge wie 25…Lxb5 oder 35…Dxb2 zu finden, die alles zusammenhielten. Die Kommentatoren waren sich einig, dass es eine tolle Partie von Ding war, der dem Druck der Vorbereitung bravourös standgehalten hat.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Nepomniachtchi-Duda 1-0
Eine Mischung aus Königsindischem Angriff und der Katalanischen Eröffnung führte in dieser Partie zu einer recht theoretischen Stellung, die zum Beispiel der deutsche Großmeister Rasmus Svane schon mehr als einmal auf dem Brett hatte. Duda schien davon aber völlig überrascht worden zu sein und wenn wir uns die letzten drei Jahre ansehen, eröffnete Nepomniachtchi auch wirklich nur acht Prozent seiner Partien mit 1.Sf3 und satte 78 Prozent mit 1.e4.
Trotz wenig Erfahrung in dieser Variante fühlte sich der russische Großmeister wie ein Fisch im Wasser, als er die Neuerung 13.Tc1 spielte und damit von einer Partie zwischen zwei Landsleuten abwich (in der Partie zwischen Svidler und Karjakin, 2018 in Wijk aan Zee wurde 13.Kh2 gespielt).
Nepomniachtchi: "Zum ersten Mal in diesem Turnier habe ich genau die Stellung bekommen, die ich vor der Partie vorbereitet hatte. Das war sehr hilfreich."
Nepomniachtchi hits Duda with a novelty. 🎙️ @GM_Hess explains some ideas ⬇️.#FIDECandidates pic.twitter.com/xGtrgBLKId
— ChesscomLive (@ChesscomLive) June 23, 2022
Wie in der Partie zwischen Nakamura und Ding baute Nepomniachtchi zunächst nur einen Vorteil auf der Uhr (90 Minuten gegen 49 für Duda im 16. Zug) und nicht so sehr auf dem Brett auf. Das ist jedoch nur die Perspektive der Engine. Für einen Menschen war bereits ersichtlich, dass die Stellung für Schwarz viel schwerer zu spielen war als für Weiß.
Duda hätte dann anscheinend den seltsam aussehenden Zug 19…Ld4 finden müssen und dass ihm das nicht gelang, war keine wirkliche Überraschung. Nepomniachtchi benötigte nur die kleinste Ungenauigkeit seines Gegners, um einen überwältigenden Angriff am Königsflügel zu starten, während Dudas Läufer auf h7 mehr oder weniger gefangen war.
Unsere Kommentatorin Almira Skripchenko fand: "Das ist nicht die Stellung, die du gegen Ian bekommen willst. Er ist voll in seinem Element."
Duda hatte noch 31 Minuten für 15 Züge, was seinen Kampf gegen die Windmühlen noch erschwerte. Da Nepomniachtchi jedoch einen schnelleren Gewinn verpasste, begann es für den Polen erst im 26. Zug, als der den Bauern auf h7 hätte schlagen sollen, wirklich bergab zu gehen.
Falls noch irgendjemand Zweifel hatte, dass Nepomniachtchi seine dritte Partie im Turnier gewinnen würde, konnte er auf unserer Event-Seite einen Blick auf die neue Stockfish 15 NNUE-Cloud-Engine werfen. Diese zeigte zuerst einen Vorteil von +100 und als sie eine Rechentiefe von 49 Halbzügen erreicht hatte, ein erzwungenes Matt in 39 Zügen.
Nach der Partie verließ Duda umgehend den Ort des Geschehens. Zum Glück hat er jetzt einen Ruhetag, an dem er diese Partie so schnell wie möglich vergessen und sich auf seine nächsten Aufgaben vorbereiten kann.
Nepomniachtchi war natürlich extrem zufrieden. Nur wenige und wahrscheinlich nicht mal er selbst hatten damit gerechnet, dass er nach sechs Runden auf +3 stehen würde.
Hier könnt Ihr eine Video-Analyse dieser Partie von "The Big Greek" Georgios Souleidis ansehen:
Und Sam Shankland hat die Partie ebenfalls zur "Partie des Tages" auserkoren und für uns analysiert:
In der sechsten Runde des Kandidatenturniers bauten die beiden frühen Führenden ihre Führung sogar noch aus. Es könnte bereits wie ein Zweikampf zwischen Nepo und Caruana aussehen, aber alles, was es braucht, ist eine Runde in der beide verlieren und schon wäre das Turnier wieder weit offen. Ich würde trotzdem sagen, dass die beiden jetzt eine 70-prozentige Siegchance haben. Besonders Nepo hat heute eine fantastische Partie gespielt.
Firouzja-Caruana 0-1
Für die Spannung bei diesem Turnier war dieser Sieg von Caruana besonders wichtig, denn er verhinderte, dass Nepomniachtchi dem Feld enteilt. So aber hat es Caruana durch seinen dritten Sieg in der siebten Partie gegen Firouzja (bei 4 Remis und noch keiner Niederlage) geschafft, den Rückstand auf den Russen mit einem halben Punkt absolut in Grenzen zu halten.
In einer sehr Standardstellung des geschlossenen Katalanen überraschte Firouzja früh mit dem Zug 6.Dd3. Der ist zwar selten, aber nicht unbekannt und eigentlich sogar eine Art Spezialität von Boris Gelfand, der ja selbst schon einmal um die Weltmeisterschaft gespielt hat.
Caruana gab danach zu, dass er nach diesem Zug bereits aus seiner Vorbereitung war: "Ab hier war ich ziemlich auf mich alleine gestellt. Ich stand aber ok und meine Züge waren sehr natürlich und logisch."
Man könnte sagen, dass es in dieser Partie gleich zwei Neuerungen gab. Caruanas Zug 9...Sxd4 war in dieser Stellung noch nie gespielt worden, aber durch eine Zugumstellung erreichten die Spieler wieder eine Partie von Gelfand, von der Firouzja dann mit 12.Dg4 abwich (Gelfand hatte 12.Dd3 gespielt).
Jedenfalls reagierte Caruana gut auf Firouzjas Idee und glich mehr oder weniger direkt aus der Eröffnung heraus aus.
Firouzja, der mit der Stellung offensichtlich nicht allzu glücklich war, dachte 39 Minuten über seinem 13. Zug nach und entschied sich dann für eine Variante, die unseren Kommentatoren überhaupt nicht gefiel. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Als seine Uhr bereits auf 18 Minuten heruntergetickt war (Caruana hatte noch fast eine Stunde Bedenkzeit übrig) entschied sich Firouzja für ein Qualitätsopfer, das aber auch nicht funktionierte.
"Ich weiß nicht, ob er die Qualität wirklich geopfert hat," sagte Caruana. "Ich glaube, er hat einfach 21…f5 übersehen, denn er hat darauf recht überstürzt reagiert und dann hatte ich eine Stellung, in der ich klar besser stehen sollte."
Den Bauern mit 22.Lxf5 zu schlagen wäre besser gewesen, als mit dem Bauern, selbst wenn das wegen 22…De8 die Qualität nicht zurückgewinnt. In der Partie gewann Caruana bald einen Bauern und hatte eine volle Qualität mehr. Er spielte bis zum Ende genau und brachte den vollen Punkt souverän nach Hause.
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Wie schon in der ersten Runde heißen die Sieger des Tages Caruana und Nepomniachtchi. Wenn sie einer der anderen Spieler noch einfangen will, muss er gehörig Gas geben.
Die rote Laterne hält mit Firouzja genau der Spieler, gegen den Carlsen um die nächste Weltmeisterschaft spielen wollte. Fast symbolisch dafür haben ihn Caruana und Nepomniachtchi auch in den Live-Ratings überholt.
"Er spielt eindeutig unter seinem normalen Niveau", sagte Caruana über Firouzjas enttäuschenden Start in das Turnier. "Ob es am Druck oder an etwas anderem liegt, darüber kann ich aber auch nur spekulieren."
Die Tabelle nach 6 von 14 Runden
Die Paarungen der siebten Runde
Runde 7 | 25. Juni 2022 |
15:00 Uhr |
Rapport | - | Nepomniachtchi |
Duda | - | Nakamura |
Ding | - | Firouzja |
Caruana | - | Radjabov |
Weitere Berichte vom Kandiatenturnier 2022:
- Das Kandidatenturnier 2022: Alle Informationen
- Caruana im Interview: 'Das Preisgeld interessiert mich nicht' (nur auf Englisch)
- Die 10 besten Partien aller Kandidatenturniere
- Großmeister Serper blickt auf das Kandidatenturnier
- Runde 1: Sieger: Caruana und Nepomniachtchi
- Runde 2: Sieger: Nakamura
- Runde 3: Vier Remis
- Runde 4: Sieger: Nepomniachtchi
- Runde 5: Vier Remis