Kandidatenturnier, Runde 3: Der Tag der Remis
Hikaru Nakamura zeigte in seiner allerersten klassischen Partie gegen Alireza Firouzja eine brillante Verteidiung und sicherte sich nach 51 Zügen ein Remis. Zuvor wurden die anderen drei Partien ebenfalls mit Remis beendet. Damit teilen sich auch nach 3 von 14 Runden Fabiano Caruana und Ian Nepomniachtchi die Führung beim Kandidatenturnier 2022.
So könnt Ihr das Kandidatenturnier 2022 verfolgen
Wie übertragen das Kandidatenturnier 2022 täglich ab 15.00 Uhr. Die deutschsprachige Übertragung findet Ihr auf Chess.com/TV, unserem Twitch-Kanal und auf YouTube, die englischsprachige Übertragung auf YouTube.com/ChesscomLive.
Alle Partien des Kandidatenturniers findet Ihr hier auf unserer Live Events Plattform.
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der dritten Runde mit unseren Kommentatoren Steve Berger und Vincent Keymer.
Bei jeder einzelnen Schachpartie auf höchstem Niveau ist das wahrscheinlichste Ergebnis ein Remis und daher ist es keine große Überraschung, dass es bei einem Kandidatenturnier mindestens einen Tag gibt, an dem alle vier Partien Remis enden. Beim Kandidatenturnier 2013, das erste Turnier, das mit diesem Format gespielt wurde, gab es sogar drei dieser Runden. Aber keine Sorge: Die Ausgaben 2014, 2016, 2018 und 2020-2021 hatten alle nur eine.
Die vier friedlichen Ergebnisse der dritten Runde kamen aber alle unterschiedlich zustande. Bei der Partie Radjabov gegen Nepomniachtchi hatten die Spieler keine wirkliche Lust zu spielen, während wir Caruana gegen Duda als "Großmeister-Remis" bezeichnen können, denn keiner der Spieler machte einen merklichen Fehler.
Ding Liren hingegen verpasste gegen Richard Rapport, der sich abermals aus einer verlorenen Stellung retten konnte, seinen ersten Sieg bei diesem Turnier und dann gab es noch die Partie zwischen Firouzja und Nakamura, bei der sich der Amerikaner aufgrund einer fantastischen Vorbereitung des Youngsters durchgehend verteidigen musste, aber die Partie dank einer ebenso fantastischen Defensivleistung remis halten konnte.
Radjabov-Nepomniachtchi ½-½
Etwa eineinhalb Stunden nach Beginn der Runde war die erste Partie bereits vorbei. Im modernen Schach ist es fast unmöglich, schnelle und langweilige Remis zu vermeiden. Bei diesem Turnier dauerte es immerhin drei Runden, bis wir das erste davon zu sehen bekamen.
Radjabov, der gestern verloren zu hatte und ja vor dem Kandidatenturnier ein schlechtes Turnier in Norwegen gespielt hatte (bei dem er 19 Elo-Punkte verlor), schien mit einem schnellen halben Punkt zufrieden zu sein. Außerdem ist er sowieso als Spieler, der relativ häufig Remis spielt, bekannt. Seit November 2017 hat der Aserbaidschaner 100 klassischen Partien gespielt und dabei eine Remisquote von 80 Prozent erzielt.
Und da Nepomniachtchi bereits eine Partie gewonnen hatte, gab es auch für den Russen keinen Anreiz, ein unnötiges Risiko einzugehen. Er wich von seinem üblichen Rezept gegen den Katalanen ab, indem er bereits im vierten Zug den weißen Bauern nahm und sofort danach 5…c5 folgen ließ. Letztes Jahr bei der WM gegen Magnus Carlsen hatte er erst im sechsten Zug auf c4 geschlagen
In der heutigen Partie folgten die Spieler 16 Züge lang der Theorie und dann waren bereits alle Leichtfiguren verschwunden und ein völlig ausgeglichenes Doppelturm-Endspiel auf dem Brett. Die Spieler benötigten dann noch weitere 10 Züge, um eine geeignete Zugwiederholung zu finden, mit der sie die Partie beenden konnten und somit hatte Radjabov seine +1 Bilanz gegen diesen speziellen Gegner verteidigt.
Anmerkungen GM Rafael Leitao.
Caruana-Duda ½-½
Caruana hatte vor der heutigen Partie noch nie gegen Jan-Krzysztof Duda verloren, aber schon drei der bisherigen sechs Partien gewonnen. Der letzte Sieg gelang ihm im Jänner dieses Jahres in Wijk aan Zee mit Schwarz.
Ein Jahr zuvor hatte sich Duda in Wijk aan Zee mit Schwarz für die russische Verteidigung entschieden. Heute versuchte er sein Glück mit dem kämpferischen Najdorf, das er auch regelmäßig spielt.
Caruana wählte den englischen Angriff und die polnische Nummer behandelte die Eröffnung auf moderne Weise mit einem frühen h5, um die weiße Idee g2-g4 zumindest vorübergehend zu verhindern.
In diesem Abspiel gibt es sehr viele Varianten und das hat Caruana vielleicht ein wenig verwirrt, denn seine Idee, bei der es darum ging, den Springer möglichst schnell nach c6 zu bringen, brachte ihm keinen Vorteil. Die Engine zeigte einen ausgeklügelteren Weg für Weiß, den Springer nach c6 zu bringen (16.c4 bxc4 17.Sxc4 Da7 18.Sa5 Tc5 19.Sc6), wonach der Springer eine längere Zeit auf dieser saftigen Weide grasen hätte können.
Die Partie erreichte schnell ein Endspiel, in dem, besonders nachdem die Bauern am Damenflügel fixiert waren, Dudas Springer nicht schlechter war als Caruanas Läufer.
Nachdem die Türme getauscht wurden, hatte Caruana für eine gewisse Zeit sogar einen Bauern weniger, aber das war alles kalkuliert, denn es war klar, dass sein aktiver Läufer die Dinge zusammenhalten würde. Ein gutes, aber etwas ereignisloses Remis, mit dem Caruana aber immerhin die geteilte Tabellenführung verteidigen konnte.
Anmerkungen GM Rafael Leitao.
Ding-Rapport ½-½
Mit dem großen Fokus auf die Eröffnungstheorie in diesem Turnier kann es enorm wichtig sein, den Gegner zu überraschen. Es war faszinierend zu sehen, wie Caruana das neulich auf die Spitze trieb, indem er einen Zug spielte, von der er wusste, dass er zweifelhaft war (10…Sg4 gegen Nepomniachtchi).
Rapport hingegen ist ja dafür bekannt, ausgefallene Eröffnungen zu spielen und deshalb kann er seine Gegner auf die exakt entgegengesetzte Weise überraschen: Indem er eine echte Hauptvariante spielt! Das Grünfeld ist eine der beliebtesten und angesehensten Verteidigungen gegen 1.d4, und Rapport hatte diese Eröffnung noch nie zuvor in seiner Karriere gespielt.
Ding hatte seinerseits noch nie den klassischen Aufbau mit 7.Lc4 gespielt, was vielleicht die erste kleine Überraschung für Rapport war. Natürlich war der ungarische GM aber auch auf diesen Zug vorbereitet und spielte mit 10…b6 einen der Hauptzüge in dieser Stellung.
17 Züge lang folgten die Spieler einer Online-Partie, die Giri und Nepomniachtchi 2020 gespielt hatten. Dazu gehörte der typische Vorstoß h2-h4 für Weiß, der zwar schon seit Jahrzehnten als positionelles Thema im Grünfeld bekannt ist, aber durch Deepminds AlphaZero, das ja eine besondere Vorliebe für solche Bauernzüge zeigt, neue Fans gewonnen hat.
Rapports Zug 17…Tfd8 war zwar auch die Wahl von Nepo in der eben genannten Online-Partie, sah aber trotzdem ungenau aus, denn Ding konnte danach sofort mit 18.Lg5 einen Angriff starten. Aber jetzt kam die Idee von Rapport ans Licht: Er opferte gleich im nächsten Zug eine Qualität und das musst er bereits geplant gehabt haben, als er seinen Turm auf d8 gestellt hatte.
Hatte Schwarz danach genügend Kompensation? Nur wenige Züge später sah das nicht so aus.
Der Engine gefiel jetzt der sehr subtile Zug 22.Kf1 um Schwarz alle Möglichkeiten für Schachs zu nehmen und gleichzeitig 23.Tc4 zu drohen, und Ding fand den Zug.
Die Stellung, in der Ding den starken Zug 22.Kf1 gefunden hatte.
Danny Rensch kommentierte: "Wir dachten, dass er diesen super seltsam aussehenden Zug auf keinen Fall finden wird. Vielleicht ist Ding Liren doch mehr Maschine als Mensch!"
In der Diagrammstellung schlug Rapport dann den Springer auf e2, obwohl sein Turm auf d8 hing. Was hatte er da nur gesehen?
Die Sache ist, wenn Weiß diesen Turm nimmt, wird Schwarz mit der Dame auf e4 und als Nächstes auf g2 schlagen, was für einen Menschen beängstigend aussieht. Ding war jetzt doch wieder ein Mensch und ihm gefielen die daraus resultierenden Komplikationen nicht und er schlug auf e2 zurück.
Wenn er die Partie mit einer Enginge überprüft, wird er diese Entscheidung aber wohl bereuen, denn die furchtlose Engine nimmt einfach den Turm, beansprucht einen Vorteil von +5 und bedankt sich herzlich für die Partie.
Das stellte sich als Schlüsselmoment der Partie heraus, da Rapport danach einige nützliche Abtäusche tätigen konnte und Ding in Zeitnot geriet und irgendwann den Rettungsanker warf und ein Remis erzwang. Rapport kann sich bisher nicht über fehlendes Glück beschweren und wer weiß, wohin das führen kann, wenn er auch noch anfängt zu punkten?
Anmerkungen von GM Rafael Leitao.
Firouzja-Nakamura ½-½
Diese beiden Spieler hatten schon hunderte, wenn nicht tausende Male online gegeneinander gespielt, aber dies war das allererste Mal, dass sie sich an einem echten Schachbrett gegenübersaßen. Außerdem war es auch Firouzjas erste Weißpartie in diesem Turnier.
Der Franko-Iraner Firouzja beginnt seine Partie etwa doppelt so oft mit 1.e4 wie mit 1.d4, entschied sich aber diesmal für Letzteres. Sein Zug 4.Dc2 gegen die nimzoindische Verteidigung muss eine kleine Überraschung gewesen sein, da Firouzja ihn bisher nur einmal gespielt hatte und das war beim Asian Nations Cup 2016, als er 12 Jahre alt war (aber bereits mit 2475 bewertet!). Außerdem hatte er erst vor einem Monat in seiner Partie gegen Leinier Dominguez beim Superbet Classic in Bukarest 4.e3 gespielt.
Vielleicht besteht ja auch eine Verbindung zu Ivan Sokolov, der viel mit dem iranischen Team zusammengearbeitet hat und einmal ein ganzes Buch nur über diesen Zug 4.Dc2 geschrieben hat, obwohl das 26 Jahre her ist.
Nakamura wurde unvorbereitet erwischt und musste viel früher als sein Gegner Zeit auf der Uhr investieren. Bei seinem Zug 13…c5 musste er zum ersten Mal überlegen und auch vor dem Zug 15…g5 hat er nachgedacht, da er eine sehr scharfe Antwort erlaubt, die Firouzja dann auch tatsächlich gab.
Obwohl es wahrscheinlich ein vorübergehendes Opfer war, 'opferte' Firouzja mit 16.Sxg5 eine Figur und machte die Partie damit zur aufregendsten des Tages. Es war auch der erste neue Zug, mit dem die Spieler von einer kürzlich gespielten Online-Partie von Ben Johnson, dem Moderator des beliebten Schach-Podcasts Perpetual Chess, abwichen.
Als Nakamura dann seinen 20. Zug gespielt hatte, hatte er noch 30 Minuten Zeit für seine nächsten 20 Züge, während Firouzja noch eine Stunde und 51 Minuten auf seiner Uhr hatte. Erst im 26. Zug musste er zum ersten Mal nachdenken... das ist modernes Schach!
Der Spezialist für kurze Bedenkzeiten fand aber trotz seines Zeitrückstands bravourös seinen Weg durch den taktischen Dschungel. Er schaffte es, zu einem ähnlichen Endspiel wie am Vortag mit Turm und Springer gegen Turm und Läufer zu liquidieren, aber in diesem Fall hatte die Seite mit dem Läufer die besseren Chancen und der Spieler mit dem Läufer war Firouzja.
Das französisch-iranische Wunderkind musste im 37. Zug eine wichtige Entscheidung treffen: Weiter mit den Türmen auf dem Brett spielen oder tauschen? Nach 13-minütigem Nachdenken entschied er sich für Letzteres. Das war zwar die überzeugendste Fortsetzung, aber würde sie auch für einen Sieg reichen?
Die Situation auf der Uhr war für Nakamura schwierig, aber nicht dramatisch. Nach Firouzjas 38.Ld8 hatte er noch 5 Minuten für drei weitere Züge. Während Firouzja im Spielsaal herumlief, summte Kommentator Rensch die Titelmelodie des Films "Der weiße Hai" und erklärte, dass Weiße Haie gerne ihre Beute umkreisen, bevor sie sie fressen.
Zum Glück für Nakamura waren seine 39. und 40. eher forciert, sodass er die Zeitkontrolle locker erreicht. Tatsächlich spielte er dann aber auch den Schlüsselzug 41…c3 ohne nachzudenken, obwohl er gerade erst wieder eine Stunde auf der Uhr bekommen hatte.
Die Verteidigungsstrategie wurde klar: Schwarz wollte Weiß nur mit einem a-Bauern am Damenflügel zurücklassen, wonach er seinen Springer für die beiden weißen Bauern am Königsflügel opfern könnte, um eine theoretische Remisstellung zu erreichen.
Firouzja dachte dann eine ganze Stunde über 42.bxc3 nach und auch bei seinen nächsten paar Zügen verbrannte er gehörig Zeit auf der Uhr.
Jetzt war es Nakamura, der sich selbstbewusst vom Brett fernhielt. Er kam nur zurück, um schnell einen Zug zu machen und dann wieder zu gehen. Ganz als hätte er damit sagen wollen: "Ich habe das voll im Griff, Freund der Sonne."
Bald musste Firouzja seine Gewinnversuche aufgeben und als sich die Spieler sich die Hände schüttelten, lächelte er sogar ein wenig. Vielleicht war er von der Widerstandskraft seines Gegners einfach beeindruckt?
Alles in allem war es ein tolles Duell, bei dem man schnell vergessen konnte, dass wir heute keinen einzigen Sieg zu sehen bekamen. Es wird wieder einmal sehr interessant sein, Nakamuras Gedanken zu hören, wenn er seine Partie wie jeden Tag auf seinem Twitch-Kanal gemeinsam mit seinen Fans durchgeht.
Was "The Big Greek" Georgios Souleidis zu dieser Partie zu sagen hat, könnt Ihr Euch in diesem Video ansehen:
Und hier ist die Analyse der Partie von Sam Shankland:
Die Tabelle nach 3 von 14 Runden
Die Paarungen der vierten Runde (Dienstag)
Runde 4 | 21. Juni 2022 | 15:00 Uhr |
Rapport | - | Nakamura |
Nepomniachtchi | - | Firouzja |
Duda | - | Radjabov |
Ding | - | Caruana |
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