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Ju Wenjun ist zum 4. Mal Weltmeisterin

Ju Wenjun ist zum 4. Mal Weltmeisterin

Colin_McGourty
| 0 | Berichterstattung von einem Schach-Event

Ju Wenjun ist alte und neue Schach-Weltmeisterin!

Nachdem sie bei der FIDE Damen-Weltmeisterschaft 2023 ihre Gegnerin Lei Tingjie in der 12. und letzten Partie besiegen konnte, hatte sie das Duell mit 6.5:5.5 gewonnen. Neben dem Titel erhält die 17. Weltmeisterin auch eine Siegprämie in Höhe von €300.000. Für Lei Tingjie, die so knapp vor dem Titelgewinn stand, werden die €200.000, die sie für den zweiten Platz erhält, nur ein schwacher Trost sein.

So haben wir die FIDE Damenweltmeisterschaft 2023 übertragen
Wir haben alle Partien live und in voller Länge auf Twitch und YouTube übertragen. Alle Infos zur Damen-WM findet Ihr hier auf unserer Live-Events Plattform.

Kommentatorinnen: Jennifer Shahade und Jovanka Houska. 

Lei war bei ihrer ersten Weltmeisterschaft ein wahrer Lichtblick und schien, insbesondere nachdem sie in einer fantastischen ersten Hälfte der WM die Führung übernommen hatte, alle Chancen zu haben, die 18. Weltmeisterin der Damen zu werden. In der zweiten Hälfte der WM schlug Ju aber zurück und zeigte besonders in der letzten Partie ihre ganze Klasse, um ihren Titel zu verteidigen. Damit ist sie erst die sechste Spielerin, die den Titel viermal oder öfter gewinnen konnte.

Alle Weltmeisterinnen

# Name Zeitraum Titel Jahre
1 Vera Menchik 1927-44 8 1927, 1930, 1931, 1933, 1935, 1937 (2), 1939 
2 Lyudmila Rudenko 1950-53 1 1950
3 Elisaveta Bykova 1953-56, 1958-62 3 1953, 1958, 1959
4 Olga Rubtsova 1956-58 1 1956
5 Nona Gaprindashvili 1962-78 5 1962, 1965, 1969, 1972, 1975
6 Maia Chiburdanidze 1978-91 5 1978, 1981, 1984, 1986, 1988
7 Xie Jun 1991-96, 1999-2001 4 1991, 1993, 1999, 2000
8 Susan Polgar 1996-99 1 1996
9 Zhu Chen 2001-04 1 2001
10 Antoaneta Stefanova 2004-06 1 2004
11 Xu Yuhua 2006-08 1 2006
12 Alexandra Kosteniuk 2008-10 1 2008
13 Hou Yifan 2010-12, 2013-15, 2016-17 4 2010, 2011, 2013, 2016
14 Anna Ushenina 2012-13 1 2012
15 Mariya Muzychuk 2015-16 1 2015
16 Tan Zhongyi 2017-18 1 2017
17 Ju Wenjun 2018-heute 4 2018 (2), 2020, 2023

Chess.com Autor Nathaniel Green hat einen ausführlichen Artikel über alle Schachweltmeisterinnen der Geschichte geschrieben. Wenn Ihr diesen Artikel gerne auf Deutsch lesen möchtet, dann schreibt es doch einfach unten in die Kommentare.

Ju hat jetzt 3 Titel in einem Match und einen in einem K.o.-Turnier, an dem 64 Spielerinnen teilgenommen hatten, gewonnen:

Jahr Ergebnis Gegnerin
2018 Sieg Tan Zhongyi
2018 Sieg Kateryna Lagno (im Finale eines K.-o.-Turniers)
2020 Sieg Aleksandra Goryachkina
2023 Sieg Lei Tingjie

Die meisten Experten prognostizierten für die letzte Partie ein ruhiges Remis, bei dem sich die Spielerinnen für das Schnellschach-Playoff schonen würden. Vielleicht hatten die meisten einfach nicht bedacht, dass alle Titelkämpfe von Ju eine dramatische letzte klassische Partie beinhalteten.

Als Ju beim Titelkampf 2018 gegen Tan Zhongyi in der letzten Partie nur noch ein Remis benötigte, spielte sie voll auf Angriff und erreichte eine völlige Gewinnstellung, in der sie dann einem Remis, das ihr die Krone bescherte, zustimmte.

Ju Wenjun. Foto: Stev Bonhage/FIDE.

Bei ihrer zweiten Weltmeisterschaft im Jahr 2018 stand sie nach einem K.-o.-Turnier für 64 Spielerinnen im Finale gegen Kateryna Lagno und musste die letzte von 4 Partien mit Schwarz gewinnen, um noch ein Playoff zu erreichen - und sie hat es geschafft!

Die jeweils letzten klassischen Partien bei ihren ersten beiden Weltmeisterschaften liefen also perfekt für Ju, aber bei der WM 2020 gegen Aleksandra Goryachkina war sie es, die nur noch ein Remis zum Titelgewinn benötigte und sich geschlagen geben musste. Ihren Titel konnte sie aber dann in einem Playoff verteidigen.

Daraus können wir schließen:

  1. Es gibt nur weniger Spieler auf der Welt, die mehr Erfahrung haben, wenn es um alles entscheidende Partien bei einer WM geht.
  2. Wir sollten alles, aber kein ruhiges Remis erwarten!

Was wir geboten bekamen, war ein Thriller, bei dem der Bewertungsbalken hin und her schwankte, bis das Pendel auf der weißen Seite stehen blieb.

12. Partie: Ju Wenjun 1-0 Lei Tingjie

Genau wie in der vorletzten Partie, in der Ju zu ihrer ersten Wahl im Match mit Schwarz 1...e5 zurückkehrte, kehrte sie hier zu 1.d4 zurück, das sie in den ersten drei Partien gespielt hatte. Nach 1...d5 sorgte sie allerdings mit 2.Sf3 für die erste kleine Überraschung, denn bisher hatte sie immer 2.c4 gespielt. Es war eine ruhige Eröffnung, aber als die Spielerinnen in den Kaninchenbau einer unglaublich komplizierten und gefährlichen Eröffnungstheorie abtauchten, war es mit der Ruhe vorbei.

Im 13. Zug hatte Ju zwei verbundene Freibauern am Damenflügel, während Lei einen Freibauern auf der c-Linie und ihre Kräfte im Zentrum versammelt hatte. Und dann hatte Lei die Chance, 13...g5 zu spielen!

Wenn Weiß den Bauern mit dem Springer schlagen würde, könnte Schwarz auf h2 schlagen und bekommt eine halboffene g-Linie, auf der Schwarz angreifen kann. Der Computer empfiehlt aber trotzdem zu schlagen und Ju bemerkte später, dass sie sich diese Stellung mit ihrem Team, zu dem nicht nur der zuvor bekannt gegebene Großmeister Pentala Harikrishna, sondern auch der Chinese Wei Yi, die Nummer 23 der Welt, gehörte, angesehen hatte. Ju erklärte: "Es gibt viele Möglichkeiten für Schwarz und ich war auf jede dieser Varianten vorbereitet."

Nach 18-minütigem Nachdenken entschied sich Lei aber dann für 13...0-0, doch das bedeutete kein ruhiges Spiel. In den darauffolgenden schwierigen Zügen stiegen und sanken die Hoffnungen beider Spielerinnen.

Zuerst schien Lei vom richtigen Weg abgekommen zu sein und die weißen Bauern begannen die Stellung zu dominieren, aber im 18. Zug beschloss Ju, ihren angegriffenen Turm nicht in Sicherheit zu ziehen, sondern den Turm mit 18.Lxf6 für zwei Leichtfiguren aufzugeben. Später erklärte sie, sie wolle die Stellung kompliziert halten und war sich nicht sicher, wie sie die Stellung nach dem vom Computer empfohlenen Zug 18.Ta2, den sie natürlich gesehen hatte, bewerten solle.

Nach 18...Sxa1, 19.Lxa1 und Dxa5 waren Jus einst so stolze Bauern am Damenflügel nur noch Geschichte, aber gerade als die Kommentatorinnen annahmen, dass sie auf einen Angriff am Königsflügel vertraute, entschied sie sich für 20.Dc3 und drohte mit Schachmatt auf g7 und bot einen Damentausch an.

Im Nachhinein gesehen reagierte Lei zu schnell und atmete vielleicht sogar erleichtert auf, weil sie die Damen vom Brett gebracht hatte. Ohne sich groß mit den Alternativen 20...Lf8 oder 20...f6 zu beschäftigen, nahm sie das Angebot zum Damentausch an und bemerkte nicht, dass es vielleicht günstiger gewesen wäre, es ihrer Gegnerin zu überlassen, die Damen zu tauschen.

Die Stellung blieb aber ausgeglichen, bis Lei eine Entscheidung traf, die sie möglicherweise den Weltmeistertitel gekostet hat: 22...e5?

Es ist natürlich wünschenswert, die weißen Figuren und den Verteidiger des b5-Bauern zu untergraben, aber als sich der Staub gelegt hatte, stellte sich heraus, dass es der schwarze d5-Bauer war, der tödlich geschwächt worden war. Lei sagte, sie habe vorausgesehen, was in der Partie passiert ist: "Ich denke, dass 22...e5 der großer Fehler der Partie war."

Ju fand den richtigen Zug 23.Sf5 und nach 23...Lf8 waren wir schon am letzten entscheidenden Moment der Partie angelangt.

Jetzt hatte Ju nur einen Gewinnzug und nach 10-minütigem Nachdenken hatte sie ihn gefunden. Sie spielte 24.Lxe5 und gab ihren b-Bauern auf, den Lei natürlich mit 24...Txb5 annahm, ließ aber den d5-Bauern von Schwarz einsam und verlassen zurück.

Kurzzeitig schien sich für Lei die Tür zum Weltmeistertitel geöffnet zu haben, doch am Ende schlug Ju sie zu. Foto: Stev Bonhage/FIDE.

In der Pressekonferenz dachte Ju, dass Lei ihren 27. Zug wohl übersehen hatte.

27.Sb1 war der unscheinbare Zug, der den entscheidenden Unterschied ausmachte, denn als der Springer danach nach c3 sprang, war klar, dass Ju alles bekommen hatte, was sie sich erhofft hatte – die vollständige Kontrolle über die Stellung.

Ju beschrieb die Stellung als "sehr schwer zu verteidigen". Nachdem sie durch geschicktes manövrieren ihren Figuren den schwarzen d-Bauern eliminiert hatte, ging es nur noch darum, den eigenen d-Bauern auf die gegnerische Grundlinie zu bringen.

Als er d7 erreicht hatte und mit einer Ehrenwache bedacht war, gab Lei die Partie und ihre Träume von der Weltmeisterschaft auf.

Großmeister Rafael Leitao hat die ganze Partie für uns analysiert.

Während Ju noch ihr Siegerinterview gab und erklären musste, warum sie nach dem Titelgewinn im Gegensatz zu ihrem Landsmann Ding Liren keine Emotionen gezeigt hatte, war Josefine Heinemann schon an ihrem Computer und hat die Partie ebenfalls für uns analysiert:

Über ein "Like" auf ihrem YouTube-Kanal würde sich Josefine übrigens ganz sicher freuen!

Die Frage nach den fehlenden Emotionen hat Ju natürlich auch beantwortet: "Ich war bis zum Schluss extrem konzentriert. Am Ende dachte ich nur: 'ok, Weiß gewinnt, das war's!' - Mittlerweile bin ich aber sehr aufgeregt und auch etwas erleichtert."

So endete eine spannende WM mit einer Enttäuschung für die Herausforderin und einer verdienten Fortsetzung der Regentschaft der nunmehr vierfachen Weltmeisterin, die in der zweiten Hälfte des Matches zwei Partien gewinnen konnte.

Land Name Elo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 Punkte
Ju Wenjun 2564 ½ ½ ½ ½ 0 ½ ½ 1 ½ ½ ½ 1 6.5
Lei Tingjie 2554 ½ ½ ½ ½ 1 ½ ½ 0 ½ ½ ½ 0 5.5

Die Pressekonferenz ging weiter und Ju wurde nach dem Unterschied zu ihren vorherigen Weltmeisterschaften gefragt:

"Jede Weltmeisterschaft ist etwas ganz Besonderes für mich und ich habe das Gefühl, dass es dieses Mal eine wirklich, wirklich gute Qualität der Schachpartien war und ich denke, dass beide Spielerinnen sehr gut gespielt haben. Ich habe auch das Gefühl, dass ich ein bisschen Glück gehabt habe."

Ju Wenjun. Foto: Stev Bonhage/FIDE.

Obwohl Lei enttäuscht war, bezeichnete sie das Ende der WM als "Erlösung" und fügte hinzu: "Für mich ist es ok. Ich habe zwar gerade eine Partie und ein Match verloren, aber es gibt eine Menge Dinge, auf die ich mich freuen kann und ich werde auch weiterhin Schach spielen."

Anschließend verriet sie, dass ihr nicht nur Teimour Radjabov geholfen hatte, was ja schon seit Beginn der WM bekannt war, sondern auch ihr Freund, der taiwanesische Großmeister Raymond Song. Sie sagte auch, dass sie im Verlauf der WM einige Lektionen gelernt hat.

"Ich denke, die größte Herausforderung besteht darin, sich unter einem so großen Druck zu beherrschen und ich habe auch etwas von meiner Gegnerin gelernt, die um jede Partie und bis zum Ende gekämpft hat. Solche Dinge werde ich mitnehmen."

Lei Tingjie. Foto: Stev Bonhage/FIDE.

Ju erwiderte das Kompliment bezüglich des Kampfgeists und tatsächlich hielten beide Spielerinnen ihr Versprechen, in jeder Partie zu kämpfen. Lei sagte, ihre unmittelbaren Pläne seien, "etwas leckeres essen und eine lange Pause einlegen, weil ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen möchte."

Ju hingegen ist schon in etwas mehr als einer Woche wieder im Einsatz. Dann ist sie beim FIDE Weltcup der Damen in Baku als topgesetzte Spielerin am Start.

Die FIDE-Weltmeisterschaft der Damen 2023 zwischen Ju Wenjun und Lei Tingjie begann am 5. Juli und war mit einem Preisgeld von €500.000 Euro dotiert. Die ersten sechs Partien wurden in Shanghai und die letzten Runden in der ebenfalls chinesischen Stadt Chongqing gespielt.


Weitere Berichte von der Damen-WM (alle auf Englisch)

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Colin McGourty

Colin McGourty led news at Chess24 from its launch until it merged with Chess.com a decade later. An amateur player, he got into chess writing when he set up the website Chess in Translation after previously studying Slavic languages and literature in St. Andrews, Odesa, Oxford, and Krakow.

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