Wie Vladimir Kramnik zum Super Großmeister wurde
Ich hatte sehr oft das Glück bei Schachturnieren mit Spielern zu spielen, die später zu Supergroßmeistern oder sogar Weltmeistern wurden. Die Verwandlung von talentierter Junioren zu den besten Spielern der Welt verläuft aber normalerweise langsam und stetig.
Bei Vladimir Kramnik war das jedoch völlig anders. Ende 1991 spielten wir noch zusammen bei der letzten sowjetischen Meisterschaft. Obwohl klar war, dass sich die einst mächtige Sowjetunion auflösen würde, war es schwer vorstellbar, dass sie schon in wenigen Monaten nicht mehr existieren sollte. Sich vorzustellen, dass der damalige FIDE-Meister Kramnik schon in nur einem halben Jahr einer der besten Spieler der Welt sein würde, war hingegen absolut unmöglich!
Vielleicht sollte ich aber klarstellen, was ich damit meine. Als Erstes sollte man sich bei Kramniks Titel nicht täuschen. Obwohl er "nur" ein FIDE-Meister war, wussten alle Profispieler von Kramniks enormem Talent. Bis zu einem gewissen Grad war die Situation mit der von Viktor Korchnoj vergleichbar, der die Sowjetunion verließ und dem der sowjetische Schachverband daraufhin all seiner Schachtitel beraubte. Später hielt GM Makarichev einen Vortrag und jemand aus dem Publikum fragte ihn nach Korchnoi:
"Wenn er kein sowjetischer Großmeister oder Meister mehr ist, was ist er dann?"
Makarichev machte eine Pause und antwortete: "Dann ist er ein Meisterkandidat, aber ein sehr starker!"
Dasselbe hätte man auch über Kramnik sagen können: Er war ein FIDE-Meister, aber ein sehr starker! Übrigens spielte Kramnik in der oben genannten sowjetischen Meisterschaft die folgende Partie mit der Variante, die er mir 10 Monate zuvor gezeigt hatte:
Dass ich das Spiel meines Lehrers gegen den selben Gegner sogar noch verbessern konnte, machte mich besonders stolz.
Dieser Sieg verhalf mir zu meiner ersten GM Norm!
Wie ich bereits erzählt habe, habe ich zu dieser Zeit ziemlich oft bei Turnieren mit Kramnik gespielt. Obwohl es absolut klar war, dass er eines Tages zu einem der besten Spieler der Welt werden würde, fühlte er sich immer noch als "einer von uns". Wenn ich "uns" sage, meine ich die neue Generation junger IMs und GMs.
Schaut Euch zum Beispiel diese Partie an:
Ich geriet schon in der Eröffnung in eine sehr gefährliche Situation, fand aber nach ca. 30 Minuten Nachdenken ein sehr interessantes Bauernopfer. Am Ende bot mir Kramnik in einer unklaren Stellung ein an. Wie Ihr seht, könnten wir uns noch lange mit diesem jungen FIDE-Meister beschäftigen.
Bei der Schacholympiade 1992 in Manila hat sich die Situation aber dann völlig verändert. Es ist ja eine bekannte Geschichte, dass es Garry Kasparov trotz einer sehr starken Opposition gelang, einen nicht mal 17-jährigen FIDE-Meister in das russische Team der Superstars zu holen. Vladimir Kramnik erzielte 8,5 von 9 Punkten und produzierte eine ganze Reihe von Meisterwerken. Die folgende Partie gefällt mir besonders gut, weil ich sie live gesehen habe und sie weniger als 3 Meter von meinem Brett entfernt stattgefunden hat.
Dass Großmeister John Nunn, der zu den weltweit führenden Experten der königsindischen Verteidigung gehörte, auf diese Art und Weise verlor, war schon mehr als außergewöhnlich.
Diese Schacholympiade war für mich sehr denkwürdig. Mein Team, Usbekistan, sorgte für eine der größten Sensationen der Olympiade, weil wir hinter dem russischen Kraftwerk Zweiter wurden. Außerdem habe dort meine letzte GM-Norm erzielt und den Titel sofort zugesprochen bekommen.
Meine Erinnerung an diese Olympiade ist wie ein Kaleidoskop, das sehr bunte Bilder zeigt: hervorragende Unterkunft in einem Fünf-Sterne-Hotel und dreimal täglich ein ausgezeichnetes Buffet, eine wilde Bermuda-Party mit einem Boxkampf zwischen Großmeistern und ein Bild einer weiblichen IM im Turnier-Bulletin mit einer deutlich sichtbaren und vorsätzlichen Fehlfunktion der Garderobe.
Woran ich mich nicht erinnere, ist Kramnik abseits des Schachbretts. Er blieb während der gesamten Olympiade zurückhaltend und selbst sein 17. Geburtstag am letzten Tag der Olympiade blieb allgemein unbemerkt. Ich denke, er hat sich seine Energie für die Partien gespart. In diesem Fall funktionierte sein Plan perfekt, da er die beste Leistung aller Teilnehmer der Olympiade lieferte: 2958!
Für diese Partie erhielt er sogar den Schönheitspreis:
Was für ein Schlachtfest! Ich habe übrigens gerade daran gedacht, dass ich Kramnik nie gefragt habe, wie er es geschafft hat, dieses riesige und schwere Marmorschachbrett zu transportieren, das er als Preis für diese Partie erhielt.
Diese Olympiade hat Kramnik ganz nach oben gebracht. Daher gibt es für mich zwei verschiedene Kramniks: einen vor der Olympiade und einen völlig anderen Kramnik nach der Olympiade. Versteht mich nicht falsch, selbst nach der Olympiade war er immer noch der gleiche bescheidene und sehr angenehme Mensch. Und auch am Schachbrett konnte ich noch mit ihm konkurrieren. Zum Beispiel habe ich beim nächsten großen Open - dem Alekhine Memorial 1992 in Moskau - hinter GM Tiviakov den geteilten zweiten Platz belegt. Kramnik musste sich mit dem geteilten neunten Platz begnügen.
Trotzdem war es mir klar, dass Kramnik bereits in einer eigenen Liga spielte.