Wie spielt man wichtige Partien?
Jeder Schachspieler kann sich an die Partien erinnern, die für ihn von größter Bedeutung waren. Das Niveau des Wettbewerbs spielt dabei keine Rolle: Es kann sich um die Clubmeisterschaft Eures örtlichen Schachclubs, ein beliebiges Open oder sogar um die FIDE-Weltmeisterschaft handeln.
Entscheidend ist, dass die Partie aus irgendeinem Grund unglaublich wichtig war. Manchmal geht es nicht einmal darum, ein Turnier zu gewinnen. Es könnte auch die erste Partie mit einem Meister oder Großmeister sein. Ich bin mir sicher, dass sich alle Schachspieler noch lange an eine solche Partie erinnern werden.
Es gibt sogar Fälle, in denen das Leben eines Schachspielers vom Ausgang einer Partie abhing. Hier ist eine Geschichte, die laut Wikipedia Großmeister Ossip Bernstein widerfahren war:
1918, während der Russischen Revolution, wurde der 36-jährige Bernstein in Odessa von der bolschewistischen Geheimpolizei verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt. In letzter Minute erkannte ein befehlshabender Offizier Bernsteins Namen und da er ein leidenschaftlicher Schachspieler war, bot er Bernstein einen Deal an, den dieser nicht ablehnen konnte. Sie würden eine Partie Schach spielen. Wenn Bernstein die Partie gewinnen würde, würde er sein Leben und seine Freiheit gewinnen. Bei einem Remis würde er jedoch zusammen mit den anderen Gefangenen erschossen werden. Bernstein gewann und wurde kurz darauf freigelassen.
Auch ich hatte einmal eine "Partie meines Lebens". Obwohl die Situation nicht so dramatisch war wie bei Bernstein, hing dennoch viel vom Ausgang dieser Partie ab. Die ganze Geschichte könnt Ihr hier lesen.
Wie sollte man eine so überaus wichtige Partie angehen? Leider machen viele Spieler in solch stressigen Situationen einen typischen Fehler: Sie versuchen, ihre Spielweise zu ändern. Die Begründung lautet wie folgt: Mein Gegner wird sich auf meine übliche Eröffnung vorbereiten, also werde ich ihn mit einer Eröffnung überraschen, die ich noch nie zuvor gespielt habe.
Was ein solcher Spieler dabei nicht bedenkt, ist die offensichtliche Tatsache, dass er eine Eröffnung, die er noch nie zuvor gespielt hat, nicht so gut kennt wie seine reguläre Eröffnung und sich dadurch einen Nachteil in Kauf nimmt.
Oder manchmal, wenn ein Schachspieler einem sehr starken Gegner gegenübersteht, der etwa 400 Punkte höher bewertet ist, könnte er denken, dass eine vorsichtige, verhaltene Spielweise seine Überlebenschancen erhöhen würde. Natürlich wird aber eine solche Spielweise zu einer passiven Stellung führen und das führt gegen einen sehr starken Gegner fast garantiert zu einer Niederlage.
Manchmal vergessen das selbst sehr starke Spieler. Urteilt selbst: In den zweiten Partien des Viertelfinales des kürzlich abgeschlossenen FIDE Weltcups benötigten die beiden sehr starken Großmeister Magnus Carlsen und Arjun Erigaisi nur noch ein Remis mit Weiß, um ihre Gegner Gukesh D und Praggnanandhaa R zu eliminieren. Den ganzen Bericht dieser Runde könnt Ihr hier nachlesen. Sowohl Carlsen als auch Erigaisi wählten gegen die Sizilianische Verteidigung ihrer Gegner die Alapin Variante und beide gerieten in große Bedrängnis. Während es Carlsen letztendlich gelang, ein Remis zu erreichen, scheiterte Erigaisi und verlor die Partie. Hier sind die beiden Partien:
Was mich bei diesen Partien überrascht hat, war die Eröffnungswahl. Weder Carlsen noch Erigaisi spielen die Alapin-Variante regelmäßig und daher gehe ich davon aus, dass sie diese Eröffnungsvariante nur gewählt hatten, um mit Weiß ein Remis zu erzielen. Die Schachgeschichte kennt viele ähnliche Beispiele. Hier ist nur eines davon:
So beschrieb Großmeister Raymond Keene die Partie: "In der letzten Runde benötigte Mikhail Gurevich nur noch ein Remis, um sich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren. Er entschied sich für die französische Abtauschvariante (obwohl er mit Weiß ein d4-Spieler war). Short nahm ihm komplett auseinander und spielte dann letztendlich gegen Kasparov um die Weltmeisterschaft. Gurevich hat sich von diesem Schlag nie erholt und sich nie für eine Weltmeisterschaft qualifiziert."
Um Euch die richtige Spielweise in einer solchen Situation zu demonstrieren, möchte ich Euch zwei Beispiele von zwei legendären Spielern zeigen. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Eröffnungskommentar von Garry Kasparov. Es war die entscheidende letzte Partie der Weltmeisterschaft und Kasparov benötigte nur ein Remis, um neuer Weltmeister zu werden.
Eine weitere klassische Partie wurde in der letzten Runde des Interzonenturniers von 1973 gespielt. Lev Polugaevsky musste seine Partie in der letzten Runde gewinnen, um sich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren. Das Problem bestand darin, dass sein Gegner der Super-GM Lajos Portisch war, der als ausgezeichneter Theoretiker bekannt war. Die Leute nannten ihn sogar den "ungarischen Botvinnik".
Polugaevsky musste also entscheiden, welche Eröffnung er für eine so wichtige Partie wählen sollte. Sein Sekundant, GM Igor Zaitsev, schlug vor, mit 1.e4 zu beginnen und die italienische Eröffnung zu spielen, da Portisch die daraus resultierenden Stellungen weniger souverän spielte als geschlossene Eröffnungen. Polugaevsky antwortete, dass er nicht einmal als Kind die italienische Eröffnung gespielt habe. "Das ist doch großartig!", antwortete Zaitsev. "Es wird also eine totale Überraschung für Portisch sein." Und dann begannen sie mit der Vorbereitung der italienischen Eröffnung.
Plötzlich wurde Polugaevsky aber klar, dass man eine entscheidende Partie nicht so angehen sollte. Was ist, wenn er keinen Eröffnungsvorteil erhält? Dann müsste er eine ungewohnte Stellung spielen und würde sich selbst verfluchen, weil er die falsche Eröffnungswahl getroffen hatte. Also beschloss er, seine reguläre Eröffnung zu spielen. Ja, es würde Portisch die Vorbereitung erleichtern, aber die resultierenden Stellungen wären diejenigen, mit denen Polugaevsky am meisten Erfahrung hatte. Hier ist die Partie:
Die Antwort auf die Frage, wie man entscheidende Partien spielt, ist also sehr einfach: Spielt Euer normales Schach. Wenn Ihr Angriffsspieler seid, dann greift an. Auch wenn Ihr nur ein Remis benötigt. Und wenn Ihr positionelle Spieler seid, dann widersteht der Versuchung, vom ersten Zug an einen Vollangriff zu starten, nur weil Ihr Euch in einer Situation befindet, in der Ihr unbedingt gewinnen müsst.
Denkt daran, dass Ihr in den meisten Eurer Partien das Beste aus dem herausholen werdet, was Ihr geübt habt. Eine plötzliche Änderung Eurer Eröffnungen oder Eures Spielstils wird Euch nur in eine unangenehme Situation bringen. Hier ist ein Beispiel aus meiner eigenen K.-o.-Partie bei der US-Meisterschaft:
Wenn man sich die aggressiven Eröffnungszüge von Schwarz anschaut, könnte man den Eindruck gewinnen, dass ich in einer Situation war, in der ich unbedingt gewinnen musste. Die Realität war jedoch genau das Gegenteil. Ich benötigte nur ein Remis, um das Match zu gewinnen. Obwohl es verlockend war, eine solide Variante zu spielen, habe ich genau aus dem von Polugaevsky beschriebenen Grund meine reguläre Eröffnung gespielt. Wenn Ihr also die Partie Eures Lebens spielt, dann macht das, was Ihr am besten könnt: Spielt Euer normales Schach!