Artikel
Wie man mit unverschämten Eröffnungen umgeht
What can you do when your opponent doesn't play what you expected?

Wie man mit unverschämten Eröffnungen umgeht

Gserper
| 55 | Eröffnungstheorie

Ich bin sicher, dass Ihr schon einmal eine Partie gespielt habt, in der Euer Gegner einen Eröffnungszug gespielt hat, der allen bekannten Schachregeln widerspricht.

Was war dann Euer zweiter Gedanke als dies passiert ist? (I gehe einfach mal davon aus, dass Euer erster Gedanke war: "Willst Du mich verarschen?")

Schafft Ihr es ruhig zu bleiben und Euer bestes Schach zu spielen?

Unverschämte Eröffnungszüge können aus verschiedenen Gründen gespielt werden. Einige davon haben wir schon in diesem Artikel beleuchtet.  Ein Anfänger-Zug bedeutet also nicht unbedingt, dass Euer Gegner ein Anfänger ist und deshalb solltet Ihr ihn unbedingt ernst nehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die folgende Eröffnung:

Und als ob 3...De7 noch nicht ausreichen würde, um alle Eröffnungsregeln zu brechen, wird Schwarz als nächstes auch noch 4...Sd8 spielen!

Als ich ein Kind war, veröffentlichte die führende sowjetische Schachzeitschrift Chess In The USSR einen Artikel über dieses System. Ziel des Artikels war es, die Leser davon zu überzeugen, dass dieses Eröffnungssystem nicht so schlecht ist, wie es aussieht. Da die beiden Meister aus Leningrad, die den Artikel geschrieben haben, Winogradow und Kopylow, bekannte Eröffnungstheoretiker und Erfinder waren (das Leningrader System in der Holländischen-Verteidigung ist ihre Erfindung), beschloss ich, einen Blick darauf zu werfen.

Zu meiner Überraschung sah es in der Theorie sehr flüssig aus und die von den Autoren bereitgestellten Partien sollten die Leser davon überzeugen, dass das System durchaus spielbar ist.

Seht Euch zum Beispiel die folgende Partie aus dem Artikel an:


Ich war damals ein 12-jähriges Kind, das schon einiges über Schach wusste und ich hätte eher an den Weihnachtsmann geglaubt, als ein eine solche Eröffnung. Um die heutige Sprache zu benutzen, dachte ich, dass die Autoren nur auf "klicks" aus waren.

Da jedoch nie jemand diese Eröffnung gegen mich gespielt hat, vergaß ich diesen Artikel ziemlich bald. Wahrscheinlich hätte ich mich auch nie wieder daran erinnert, wenn nicht einer meiner Teamkollegen, der ein sehr starker Spieler war, die folgende Partie in meiner Heimatstadt gespielt hätte:

Ich kenne GM Saidali Iuldachev schon seit unserer Kindheit. Er bevorzugte immer klassische Eröffnungen wie Spanisch und das orthodoxe abgelehnte Damengambit. Nun, wie ich es schon in meinem letzten Artikel erwähnt habe, spielen die meisten Spieler aus Usbekistan klassische Eröffnungen und so war ich umso mehr schockiert, eine solche Schachblasphemie zu sehen.

Dann entdeckte ich in der Datenbank, dass schon einige erfahrene Großmeister diesen Müll gespielt haben und in vielen Fällen damit davonkamen:

Das ist echter Wahnsinn. Wollen die denn aus Schach einen Zirkus machen? Ich fand den alten Artikel und las ihn noch einmal durch. Irgendwann gegen Ende des Artikels analysierten die Autoren die Variante 4.Sc3 Sd8 5.Sd5 und erwähnten, dass "es möglich ist, dass die Invasion des Springers auf das Feld d5 den Plan von Schwarz widerlegen kann."

In den Varianten, in denen Weiß es schafft, Sd5 zu spielen, bevor Schwarz c7-c6 spielt, wird es für Schwarz tatsächlich ziemlich schnell problematisch:

Natürlich hat GM Bricard diese Partie wirklich schlecht gespielt. Er hat nicht einmal den obligatorischen Zug c7-c6 gespielt! Aber die Partie zeigt Euch auf, dass Weiß vielleicht kein Tempo für die Rochade verschwenden, sondern stattdessen so schnell wie möglich auf Sd5 setzen sollte:

Die Autoren dieses alten Artikels lagen mit ihrer Schlussfolgerung also absolut richtig: Wenn Schwarz es schafft, seine langsame Entwicklung, die den Schlüsselzug c7-c6 enthält, zu beenden, erhält er möglicherweise eine spielbare Stellung. Aber wenn Weiß spielt sehr energisch 4.Sc3!, gefolgt von 4.Sd5! spielt, steht Schwarz schon kurz vor dem Zusammenbruch.

Ihr werdet Euch jetzt fragen, warum ich eine Eröffnung analysiere, die alle hundert Jahre einmal gespielt wird. Die Chancen stehen doch recht gut, dass Ihr, genau wie ich, niemals mit dieser Variante konfrontiert werdet. Ich denke aber, dass dieser Artikel eine sehr wichtige Lektion enthält; Wenn Euer Gegner in der Eröffnung einen zweifelhaften Zug spielt, versucht einfach, so energisch wie möglich zu spielen.

In vielen Fällen kann Euer Gegner nämlich nach natürlich aussehenden Entwicklungszügen seinen Plan beenden und der Bestrafung entkommen. Und wie Ihr gesehen habt, kann in solchen Situationen sogar das Rochieren eine Zeitverschwendung sein!

Mehr von GM Gserper
Ein vergessenes Meisterwerk

Ein vergessenes Meisterwerk

Kennst du diesen mächtigen Trick, der dein Spiel verändern wird?

Kennst du diesen mächtigen Trick, der dein Spiel verändern wird?