Wie ich meine ersten Eröffnungen gelernt habe
Als ich mit Schach angefangen habe, hatte ich keine Ahnung, wie man eine Partie beginnt.
Ich habe auf die Bauernreihe gestarrt und mich gefragt, welchen Bauern ich wohl zuerst ziehen sollte, ohne einen Schimmer zu haben, warum. Manchmal hab ich auch zuerst einen Springer gezogen und auf das beste gehofft. Es gibt 20 mögliche Eröffnungszüge im Schach und nachdem jeder Spieler einmal gezogen hat, steigt die Zahl der Möglichkeiten schon auf 400. Ich wusste, dass man eine Strategie braucht und Sachen berechnen musste, um zu gewinnen, aber wie sollte ich planen, was alles passieren könnte und was ich machen sollte, wenn mein Gegner g3 zog?
So war ich dann erleichtert zu erfahren, dass es Eröffnungen gibt, die ich lernen könnte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde ich. Ich würde einen guten Zug nicht mehr erraten müssen! Ich würde ihn einfach wissen! Ich würde einen Plan haben und was noch besser ist, der Plan würde nicht einmal von mir stammen! Ich könnte einfach die Züge der besten Spieler der Geschichte kopieren, mich auf deren Erfahrung, Analysen und Ansichten verlassen. Und was noch viel besser war: der Plan müsste nicht von mir gefertigt werden. Ich hatte ja gerade erst angefangen, Schach zu spielen, aber die besten Spieler der Welt hatten seit Jahrhunderten Gambits und Widerlegungen ausgearbeitet.
Es war, als wenn man anfangen würde Fußball zu spielen, und es gäbe eine Möglichkeit, Cristiano Ronaldo´s Freistöße exakt zu kopieren.
Stellt Euch das mal vor! Ein paar Züge lang könnte ich genauso wie Magnus Carlsen, Garry Kasparov, Karpov, Fischer, Capablanca oder Lasker spielen, und dann habe ich Ruy Lopez, den berühmten schachspielenden spanischen Bischof aus dem 16. Jahrhundert noch gar nicht genannt. Und niemand, der nur die Notation der Partien sieht, könnte den Unterschied erkennen! Ich würde wie ein Weltmeister spielen, auch, wenn mir dann im Mittelspiel, nach Ungenauigkeiten, Fehlern und Einstellern, die Partie entgleiten würde.
Es gab da nur ein Problem. Um die Züge auch genauso auszuführen, musste ich sie mir merken. Und das war schwierig für mich. Ein einziger Zug kann ja die ganze Dynamik der Partie verändern. Wenn ich die englische Eröffnung gespielt habe, ergab sich manchmal die Möglichkeit mit meinem Läufer auf der langen Diagonalen den gegnerischen Turm zu schlagen, aber viel öfters habe ich zugelassen, dass meine Gegner das Zentrum schlossen, und ich hatte große Teile der Partie, praktisch einen Läufer weniger. Ich versuchte auch den beschleunigten Drachen und wurde immer wieder von der gefürchteten Maroczy Fesselung überrascht. Ich habe Grünfeld gespielt und wusste nie, wann genau ich d5 ziehen sollte. Ich habe Französisch gespielt und war überrascht, als mir gesagt wurde, ich hätte Slawisch gespielt. Ich sah hilflos mit an, wie mein Holländisch von einem plündernden h-Bauern zerlegt wurde und im Königsindisch bekam ich komischerweise immer einen isolierten Damenbauern.
Ich wusste einfach nicht, welche Züge Theorie, welche Züge widerlegt und welche Züge einfach nur schlecht waren. Mit entnervender Regelmäßigkeit war ich nach dem sechsten (wenn nicht schon nach dem dritten) Zug in Panik. Ich wollte eigentlich wie Magnus sein, aber ich war nur wie ich selbst.
Mein Verlobter sah meine Partien an und seufzte. Entweder er sah einen Fehler in den ersten 5 Zügen oder er kritisierte, dass ich 1 Minute und 46 Sekunden über c5 nachgedacht hatte.
“Das weißt Du doch," wiederholte er sanft und unaufhörlich und wollte dabei wohl ermutigend wirken. "Das ist doch Theorie". Ach ja. Theorie. Die Kommentatoren auf ChessTV beziehen sich ja auch immer auf die Theorie, wenn sie einen Zug Gut oder Schlecht heißen. Ich fing an, mir die Theorie als ein magisches, eigentümliches, körperloses Wesen vorzustellen. Aber die Theorie war ein Fluch für mich. Es war die Muse, die sich weigerte, mit mir zu sprechen.
Ein großer Teil meines Problems war, dass ich ein Gedächtnis wie ein Sieb habe. Vielleicht ist mein Gedächtnis aber ja gar nicht so schlecht, sondern einfach nur voll? Wie soll ich mir denn die Widerlegung des Trompowsky Angriffs merken können, wenn ich zu beschäftigt bin, mir meine Vielflieger Nummer zu merken? Wie soll ich mir die katalanische Eröffnung einprägen, wenn sich mein Hirn noch den Canterbury Erzählungen widmet?
Ich konnte mich nie daran erinnern, welche Eröffnung ich in einer Partie, die erst seit 5 Minuten vorbei war, gespielt habe. Und schon gar nicht konnte ich mich an irgendwelche Varianten dieser Eröffnung erinnern - oft genug sogar nicht mal an die Hauptvariante.
Vor einigen Monaten hatte ich dann die geniale Idee für Weiß: Das London System! 1. d4, 2. Bf4, baue eine Pyramide, entwickle die Leichtfiguren und das Spiel kann beginnen. Ich musste mir nicht unzählige Varianten merken und es war egal, was mein Gegner zog! Ich weiß, dass ich das nicht laut, und wahrscheinlich nicht einmal leise sagen darf. Natürlich habe ich auf die Züge meines Gegners geachtet, sagte ich zumindest zu mir selbst. Natürlich machte es einen Unterschied, ob mein Gegner Damenindisch spielte oder e5 durchsetzen wollte. Die Wahrheit war aber, dass ich meine Pläne nie wirklich geändert habe, egal ob mein Gegner sich nach rechts oder links, nach vorne oder nach hinten orientierte. Ich machte vielleicht ein paar oberflächliche Veränderungen -- hauptsächlich, um sagen zu können, ich hätte auf die Züge meines Gegners reagiert --, aber meistens habe ich nur darauf gewartet bis meine Uhr zu ticken anfing und dann den nächsten Zug gemacht, als wenn keine gegnerischen Figuren auf dem Brett gewesen wären.
Manchmal hat das auch glänzend funktioniert. Ich habe Figuren gefesselt und einige umwerfende Angriffe auf dem Königsflügel gestartet. Ich dachte, ich hätte die Antwort gefunden. Einen Stil, der meine Stärken zur Geltung bringt und meine Schwächen minimiert (also hauptsächlich mein schlechtes Gedächtnis). Am Ende hatte ich aber genauso viele schlechte Partien wie Gute. Ein Springer sprang in meine Festung und plünderte, was zu plündern war. Ein einziger kleiner Bauernzug, den ich nicht kommen sah, brachte meine gesamte Pyramide zum Einsturz.
Das Problem, das jeder (außer natürlich ich selbst) sah, war, dass ich das London System wie ein System spielte und nicht wie eine Eröffnung. Anstatt die große Stärke des London Systems, nämlich seine Flexibilität, auszunutzen, folgte ich starr den Regeln.
Ich habe das gemacht, weil ich dachte, ich kann mir eh nicht mehr als 3 oder 4 Züge merken. Und eigentlich glaube ich das auch heute noch. Sicher gibt es einige Eröffnungen, die ich nie versuchen sollte, weil diese so viele Feinheiten und Theorie (aaaaaargh! Theorie!) haben. Was ich aber total vergessen hatte, war der Sinn der Eröffnungen an sich. Wenn Du das Zentrum kontrollieren willst und die Chance auf e5 hast, dann ziehe e5. Auf welche Seite willst Du rochieren? Welche Felder kontrollierst Du und welche Dein Gegner? Wohin willst Du Deine Läufer bringen? All diese grundsätzlichen Fragen, die man nur allzu leicht vergisst, wenn man sich nicht einmal den sechsten Zug der französischen Verteidigung merken kann.
Also spiele ich jetzt nicht mehr nur das London System, sondern probiere verschiedene Sachen aus. Oder zumindest versuche ich es. Ich versuche flexibel zu spielen, wähle verschiedene Eröffnungen, achte dabei auf die Grundregel, dass der richtige Zug der beste Zug ist und nicht der, den man schon immer gezogen hat.
Ich versuche mich immer an diese Regeln zu halten:
- Kompliziere nicht grundlos die Stellung.
- Denke über die besten Züge Deines Gegners nach und auf Deine Antworten darauf.
- Mach das Leben Deines Gegners schwerer und Dein eigenes Leben leichter.
Um ehrlich zu sein, vergesse ich diese Regeln manchmal und dann zweifle ich, ob ich denn jemals Fortschritte machen werde. Eigentlich weiß ich das auch nicht, aber ich hoffe es doch zumindest.
Mein Verlobter und ich haben uns zusammen das Titled Tuesday Turnier angesehen, bei dem Carlsen mit einem London System eröffnet hat:
“OH sieh mal" ärgerte mich mein Verlobter "Carlsen baut gar nicht die Pyramide auf. Ich glaube, er kennt das London System nicht so gut wie Du."
“Schade für ihn,” antwortete ich.
Louisa Thomas ist eine amerikanische Schriftstellerin und Authorin von 2 Büchern (eines davon ist: The Extraordinary Life of Mrs. Adams (Das außergewöhnliche Leben der Frau Adams)). Sie schreibt auch regelmäßig Beiträge auf NewYorker.com, und arbeitete früher als Schriftstellerin und Editorin bei Grantland.com. Außerdem ist sie "besessen" von Tennis und Schach. Ihr könnt ihr auf Twitter folgen.