Wer gewinnt das Kandidatenturnier? Eine Vorschau von GM Alex Yermolinsky
Das Kandidatenturnier 2020/21 wird in die Annalen der Schachgeschichte eingehen. Noch nie zuvor wurde ein Turnier wegen höherer Gewalt unterbrochen und ein Jahr später wieder aufgenommen. Ja, die erste Weltmeisterschaft zwischen Anatoly Karpov und Garry Kasparov in den Jahren 1984-85 wurde zwar wegen ihrer übermäßigen Dauer abgebrochen, aber als die Spieler etwa 6 Monate später wieder an das Brett zurückkehrten, begannen sie mit einem Spielstand von 0:0.
Das ist hier nicht der Fall. Wenn die Spieler das Turnier am 19. April in Jekaterinburg fortsetzen, behalten die Ergebnisse der ersten Hälfte des Turniers ihre Gültigkeit. Deshalb sollten wir uns zuerst noch einmal den Zwischenstand in Erinnerung rufen.
Tabelle nach der 7. Runde
# | Land | Name | Elo | Lstg | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | Punkte | SB |
1 | Vachier-Lagrave, Maxime | 2767 | 2876 | 1 | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | ½ | 4.5 | 15.25 | ||
2 | Nepomniachtchi, Ian | 2774 | 2875 | 0 | ½ | 1 | 1 | ½ | 1 | ½ | 4.5 | 14.25 | ||
3 | Caruana, Fabiano | 2842 | 2764 | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 0 | 1 | 3.5 | 12.25 | ||
4-5 | Giri, Anish | 2763 | 2775 | ½ | 0 | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | 3.5 | 11.25 | ||
4-5 | Wang, Hao | 2762 | 2775 | ½ | 0 | ½ | ½ | ½ | 1 | ½ | 3.5 | 11.25 | ||
6 | Grischuk, Alexander | 2777 | 2773 | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 3.5 | 12.25 | ||
7 | Ding, Liren | 2805 | 2667 | 0 | 0 | 1 | ½ | 0 | ½ | ½ | 2.5 | 8.25 | ||
8 | Alekseenko, Kirill | 2698 | 2683 | ½ | ½ | 0 | 0 | ½ | ½ | ½ | 2.5 | 9.25 |
(Feinwertung: 1. Direkter Vergleich, 2. Anzahl der Siege, 3. Sonneborn-Berger.)
Die Tabelle hat eine merkwürdige Symmetrie. Zwei Co-Leader, beide mit jeweils +2, dahinter ein großes Mittelfeld mit jeweils 50% und zwei Nachzügler, beide mit -2. Was können wir also erwarten?
Eine Prognose abzugeben, ist oft ein undankbarer Job. Das Beste, was ich anbieten kann, ist eine Studie der Kandidatenturniere seit dem Londoner Turnier von 2013, bei dem das aktuelle Format, ein Doppelrundenturnier mit 8 Spielern, erstmals Anwendung fand.
London 2013
Zwischenstand nach der ersten Hälfte:
1.-2. Carlsen und Aronian - 5 Punkte
3.-4. Kramnik und Svidler - 3.5 Punkte
Endstand:
1.-2. Carlsen und Kramnik - 8.5 Punkte
3.-4. Svidler und Aronian - 8 Punkte
Levon Aronian konnte in der zweiten Hälfte dem Druck nicht standhalten und verlor gleich drei Partien. Magnus Carlsen spielte ganz ordentlich, verlor aber überraschend gegen den Tabellenletzten Vassily Ivanchuk, während Vladimir Kramnik eine Partie nach der anderen gewann. Das Drama der letzten Runde ist wohlbekannt. Sowohl Carlsen als auch Kramink verloren ihre Partien und Peter Svidler und Aronian konnten beide gewinnen. Ihr Rückstand war aber bereits zu groß gewesen um die Führenden noch abfangen zu können. Schließlich gewann Magnus aufgrund der höheren Anzahl der gewonnenen Partien (5-4).
Khanty-Mansiysk 2014
Zwischenstand nach der ersten Hälfte:
1.-2. Anand und Aronian - 4.5 Punkte
...8. Karjakin - 2.5 Punkte
Endstand:
1. Anand - 8.5 Punkte
2. Karjakin - 7.5 Punkte
Wieder brach Aronian in der zweiten Hälfte völlig ein und verlor drei Partien. Viswanathan Anand musste lediglich in der Spur bleiben und genau das hat er auch getan. Als Anand in Runde 13 gegen Sergey Karjakin, der eine furiose Aufholjagd gestartet hatte, auf Verlust stand, wurde das Turnier aber nochmal spannend. Hätte Karjakin diese Partie gewonnen, wäre der Vorsprung des Inders eine Runde vor Schluss auf einen halben Punkt zusammengeschmolzen und Karjakin hätte mehr Partien gewonnen gehabt.
Moskau 2016
Zwischenstand nach der ersten Hälfte:
1.-2. Karjakin and Aronian - 4.5 Punkte
3. Anand - 4 Punkte
Endstand:
1. Karjakin 8.5/14
2-3. Caruana and Anand 7.5/14
Das Finale war ein großes Drama. Karjakin und Fabiano Caruana lagen punktgleich in Führung und in der letzten Runde stand das direkte Duell zwischen den beiden auf dem Programm. Da Karjakin bis dahin mehr Partien gewonnen hatte, musste der Amerikaner mit Schwarz gewinnen, um sich den Gesamtsieg zu sichern. Caruana setzte mit einer scharfen Sizilianisch-Variante alles auf eine Karte... und verlor.
Aronian ging in der zweiten Hälfte abermals völlig unter. Er verlor 2 Partien und gewann keine einzige.
Berlin 2018
Zwischenstand nach der ersten Hälfte:
1. Caruana - 5 Punkte
2. Mamedyarov - 4.5 Punkte
...6. Karjakin - 3 Punkte
Endstand:
1. Caruana - 9 Punkte
2.-3. Mamedyarov und Karjakin - 8 Punkte
Auf den ersten Blick sieht es nach einem reibungslosen Durchmarsch von Caruana aus. In der Tat waren seine 9 Punkte die höchste Punktzahl, die in allen gerade erwähnten Turnieren erzielt wurde. Nachdem er aber in der 12. Runde gegen Karjakin verloren hatte, lagen die Beiden abermals Gleichauf und wie schon in Moskau war es Karjakin, der mehr Siege auf seinem Konto hatte. Dank seiner enormen Willenskraft gelangen dann aber Caruana zwei Siege in den letzten beiden Runden - seine ersten Siege in der zweiten Turnierhälfte. Wieder sahen wir eine starke zweite "Halbzeit" von Karjakin (5/8), aber diesmal war es nicht genug, um Caruana noch einzuholen.
Ziehen wir daraus einige Schlussfolgerungen. Zunächst einmal ergibt sich aus dem Zwischenstand von 4.5 Punkten von der Großmeister Maxime Vachier-Lagrave und Ian Nepomniachtchi nur eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 50%. Da aber weder Vachier-Lagrave noch Nepomniachtchi zuvor in einem Kandidatenturnier gespielt haben, kann man natürlich nur schwer Abschätzen, wie sie in der zweiten Turnierhälfte performen werden. Wir können aber auf andere Turniere schauen. Nepomniachtchi scheint eher zu einem Einbruch zu neigen, denn 2019 ist er in der zweiten Turnierhälfte des Grand Chess Tour Events in Kroatien und beim Sinquefield Cup eingebrochen.
Wir alle erinnern uns ja noch an das Schlüsselspiel aus der siebten Runde von Jekaterinburg, als Vachier-Lagrave gegen Nepomniachtchi gewinnen konnte und in der Tabelle mit ihm gleichzog. Vielleicht wäre das ein schlechtes Zeichen für Nepomniachtchi gewesen, aber jetzt, nach der fast einjährigen Pause, sieht die Sache natürlich ganz anders aus.
Zweitens deuten die obigen Daten darauf hin, dass es bei jedem Kandidatenturnier einen Spieler gab, der in der Lage war, in der zweiten Hälfte einen starken Lauf hinzulegen. In London war es Kramnik und danach dreimal (!!!) in Folge Karjakin. Diesmal sind aber weder Kramnik noch Karjakin unter den Teilnehmern und deshalb muss es ein neuer Spieler sein. Als erstes fällt mir dabei Caruana ein. Hier ist sein Sieg in der zweiten Runde gegen Kirill Alekseenko:
Anish Giri ist ein weiterer Kandidat für eine Aufholjagd. Er belegte beim Tata Steel Turnier 2021 den geteilten ersten Platz (und verlor das Playoff gegen Jorden van Foreest) und gewann erst vor kurzem das Magnus Carlsen Invitational 2021. Auch dass Ding Liren noch etwas Lärm macht, würde ich nicht völlig ausschließen. Wenn aber die oben gezeigten Statistiken Sinn ergeben, wird es entweder Vachier-Lagrave oder Nepomniachtchi sein, der sich letztendlich durchsetzt und das begehrte Ticket für einen Showdown mit Carlsen erhält. Ich kann es kaum erwarten.
Um Euch zu helfen, die Zeit bis zum 19. April zu verkürzen, möchte ich Euch meine Analysen aller 28 Partien präsentieren, die letztes Jahr in Jekaterinburg gespielt wurden. Ich weiß, dass Ihr alle Partien schon gesehen und sicher auch schon die Kommentare von anderen gelesen habt. Ich kann Euch aber eine einzigartige Perspektive bieten. Während des Turniers war ich als Kommentator auf dem russischsprachigen Kanal hier auf Chess.com tätig, und mein Partner, GM Vladimir Dobrov, und ich waren bei jeder Partie von Anfang bis Ende dabei. Wir haben unser Bestes getan, um aus dem, was wir gesehen haben, Kopf oder Zahl zu machen, ohne dabei auf die Hilfe von Engines zurückgegriffen zu haben.
Eigentlich wollte ich meine Anmerkungen als Grundlage für ein Buch verwenden, das ich jedoch nie geschrieben habe. Vielleicht werde ich das nach dem Kandidatenturnier noch tun, aber Ihr könnt jetzt schon einen ersten Blick darauf werfen.
Viel Spaß.
Alle Partien des Kandidatenturniers mit englischen Kommentaren