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Was ist mit der Schachelite passiert?
Magnus Carlsen. Photo: Maria Emelianova / Chess.com.

Was ist mit der Schachelite passiert?

Gserper
| 70 | Endspiele

Ende 1984 veröffentlichte das führende sowjetische Magazin Chess In The USSR einen großen Artikel über die erste Partie des Weltmeisterschaftskampfes Capablanca-Alekhine, von Buenos Aires aus dem Jahre 1927.

Der Autor, V. Goldin (nicht verwandt oder verschwägert mit dem US-Großmeister Alex Goldin), stellte viele Züge der beiden Legenden in Frage. Viele Schachspieler und Analysten, darunter der berühmte Trainer Mark Dvoretsky, beteiligten sich darauf an der langen Diskussion.

Heute ist ein solcher "Analystenkampf" nur schwer vorstellbar, denn es hat ja so ziemlich jeder die gleiche Schachengine auf seinem Computer laufen? Ein erstaunlicher Punkt ist aber, dass diese Partie, die vor fast 60 Jahren gespielt wurde, immer noch interessant und relevant für die Schachgemeinschaft war. Tatsächlich war in dieser Ära eine genaue Analyse einer jeden Partie, inklusive einer anschließenden Diskussion, absolut üblich. Pro Jahr gab es nur ein paar Super-Turniere und jede Partie, die von Elite-Spielern gespielt wurde, war etwas ganz Besonderes.

Solche Partien wurden dann jahrzehntelang analysiert und erneut analysiert. Das ist heutzutage ganz anders. Wenn zwei Super-Turniere pro Monat stattfinden, ist es sehr schwierig, diese zu verfolgen, geschweige denn, die Partien gründlich zu analysieren. Eine der traurigen Konsequenzen dieser Situation ist es, dass viele sehr lehrreiche Partien und Stellungen einfach aus unserer Erinnerung verschwinden und durch die Lawine an neuen Partien, mit der wir jede Woche überschüttet werden, verdrängt werden.

Schachspieler machen dieselben Fehler und laufen in die gleichen Fallen.

Über die offensichtliche Tatsache, dass niemand im Jahr 2079 die Partien der besten Spieler von heute ernsthaft analysieren wird, da Computer unser Spiel zu diesem Zeitpunkt vollständig verändert haben werden, bin ich nicht besonders besorgt. Schade ist nur, dass Schachspieler heutzutage einfach keine Zeit haben, Partien ernsthaft zu analysieren und folglich immer wieder dieselben Fehler machen.

Hier ist ein einfaches Beispiel. Jeder ernsthafte Schachspieler meiner Generation kennt die folgende Partie:

Schwarz hat die Partie verloren, weil er die  Todsünde in Läuferendspielen begangen hat: Er zog seine Bauern auf Felder mit der gleichen Farbe wie sein Läufer.

Der harsche Kommentar von Dvoretsky für den Zug 30...g6 unterstreicht diesen Punkt:

Es ist schon lustig, einen Großmeister zu spielen zu sehen! Er sieht, dass 30...Se6 mit 31.Sf5 beantwortet wird und zieht seine Bauern ohne zu zögern auf die Felder mit der gleichen Farbe, die sein Läufer hat.

Vergleicht jetzt diese Partie einfach mit einem neueren Beispiel:

Wie konnte ein Super-GM wie Teimour Radjabov seinen Bauern nur auf a4 ziehen, wo er später dann auch verloren ging? Ist es nicht ein grundlegender, positioneller Fehler? Seltsamerweise bekamen wir dann im letzten Super-Turnier einen sehr ähnlichen Fehler zu Gesicht:

Hikaru Nakamura. Photo: Maria Emelianova / Chess.com.
Hikaru Nakamura. Foto: Maria Emelianova / Chess.com.

Einen sehr ähnlichen Fehler von Hikaru Nakamura haben wir schon in diesem Artikel unter die Lupe genommen:

Es ist aber nicht nur die Endspieltechnik, die unter dem endlosen Strom an Turnieren leidet. Schachspieler machen immer wieder dieselben Fehler und laufen in dieselben Fallen.

Hier ist ein Beispiel aus einem meiner älteren Artikel:

Und letzte Woche lief Levon Aronian erneut in dieselbe Falle:

Einerseits ist es natürlich großartig, dass Top-Spieler so viele Turniere spielen. Viele Schachlegenden aus der Vergangenheit waren am Ende ihres Lebens verarmt und daher ist es schön, dass sich die aktuelle Schachelite mit Schach einen sehr guten Lebensunterhalt verdienen kann. Andererseits muss ich immer an den Filmklassiker
Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß denken, wenn ich mir die Typen ansehe, die Tag für Tag immer wieder gegeneinander spielen müssen.

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