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Warum spielen Super-Großmeister solche Züge?

Warum spielen Super-Großmeister solche Züge?

Gserper
| 64 | Eröffnungstheorie

Letzte Woche hatte ich einen der schlimmsten Alpträume, die ein Schachtrainer erleben kann. Nein, keiner meiner Schüler hat eine Dame eingestellt oder in der Spanischen Eröffnung die Berliner Verteidigung gespielt – die Gefahr kam aus einer ganz anderen Richtung. Ich habe mir eine Playoff-Partie des kürzlich beendeten FIDE Grand Prix angesehen und hier ist die Stellung, die ich nach nur fünf Zügen gesehen habe:

Ja, das stimmt. Nach nur fünf Zügen hatte Schwarz bereits a7-a6 und h7-h6 und Weiß a2-a3 gespielt. Was machen diese Jungs nur? Wissen die nicht, dass kleine Kinder ihre Partien ansehen? Was ist, wenn meine Schüler diese Partie sehen? Okay, ich versuche es zu erklären.

Alle unerfahrenen Spieler haben das gleiche Problem: Sie lieben es, ihre Randbauern in Eröffnungen ein Feld vorzuziehen. Und sie machen dies normalerweise aus zwei Gründen:

  1. Sie haben Angst vor einer potenziellen Fesselung (wie Lb5 oder Lg5)
  2. Sie wissen einfach nicht, was sie machen sollen und spielen einen Abwartezug.

Das ist ein sehr gutes Beispiel:

Hier ist das Gespräch, das ich mit meinem Schüler hatte:

Ich: Warum hast Du diesen Zug gespielt?
Schüler: Ich hatte Angst vor der Fesselung nach Läufer g4.
Ich: Also erstens ist diese Fesselung überhaupt nicht gefährlich und zweitens hat der doch schon Läufer e6 gespielt. Wenn er Läufer g4 spielen hätte wollen, hätte er es doch sofort getan.
Schüler: Ich weiß, ich wollte es aber für alle Fälle trotzdem verhindern.

Also unterhielten wir uns ein wenig über Randbauernzüge in der Eröffnung und ich zeigte ihm eine klassische Partie von Paul Morphy. Anstatt Zeit mit Randbauernzügen zu verschwenden, folgte das amerikanische Genie seiner bevorzugten Eröffnungsstrategie: Schnelle Entwicklung, Besetzung des Zentrums und Einleitung eines Angriffs mit einem Opfer.

In einem älteren Artikel hatte ich schon einmal erwähnt, dass wir klassische Schachpartien eigentlich mit einer FSK-Altersfreigabe versehen sollten. Morphys Partien wären dann mit FSK 0 eingestuft, weil sie für Schachspieler aller Spielstärken geeignet ist. Sowohl Anfänger als auch fortgeschrittene Spieler finden in Morphys Partien Antworten auf viele ihrer Fragen. Ganz anders sieht es aber bei den Partien moderner Supergroßmeister aus. Viele von ihnen sollten mit FSK 16 oder FSK 18 gekennzeichnet sein, weil sie unerfahrenen Spielern und ganz besonders Kindern wirklich schaden können.

Sehen wir uns die Grand-Prix-Partie, mit der wir begonnen haben, etwas genauer an. Warum hat Schwarz 3...a6 gespielt? Diese Frage kann ich leicht beantworten, da ich diesen Zug, schon lange bevor er in Mode kam, selbst gespielt habe:

Mit 3...a6 zeigt Schwarz seine Absicht, den c4-Bauern zu schlagen und ihn dann mit b7-b5 zu halten. Um diese Idee zu verhindern, kann Weiß, wie in meiner Partie, e2-e3 spielen, was aber seinen eigenen Läufer auf c1 blockiert. Eine andere Möglichkeit ist, diesen Bauern wie Richard Rapport mit 4.cxd5 zu tauschen, aber dann kann Schwarz nach 4...exd5 seinen Läufer auf c8 problemlos entwickeln.

Dmitry Andreikins Zug h7-h6 ist also keine Raketenwissenschaft. Und obwohl der Zug Lc1-g5 nicht wirklich gefährlich ist, gibt er Weiß, wie wir in dieser Partie von Viktor Korchnoi sehen können, doch einige Angriffsmöglichkeiten:

Und deshalb ziehen es manche Spieler vor, mit h7-h6 den Zug Lc1-g5 zu verhindern. Sogar Weltmeister Magnus Carlsen hat das schon viele Male getan:

Jetzt verstehen wir also, warum Schwarz seine beiden Randbauern gezogen hat. Aber was ist mit dem Zug 5.a3 von Weiß? Warum wurde der gespielt? Tja. Normalerweise will Weiß verhindern, dass Schwarz seinen Springer auf c3 mit Lb4 fesselt. Ein gutes Beispiel dafür ist diese sensationelle Partie, mit der so ziemlich das begonnen hatte, was wir heute als die Petrosian-Variante in der Damenindischen Verteidigung bezeichnen:

Dennoch gibt es ein Problem mit Rapports Zug 5.a3: In dieser Variante spielt Schwarz überhaupt nicht Lb4! Macht doch einfach ein kleines Experiment und öffnet den Eröffnungs-Explorer und spielt 5.Sf3 statt 5.a3. Ihr werdet sehen, dass Schwarz in 657 Partien, in denen Weiß 5.Sf3 gespielt hat, nicht einmal den Zug 5...Lb4 gespielt hat. Und was ist mit 5.Lf4? In den 328 Partien, in denen dieser Zug gespielt wurde, hat Schwarz ebenfalls nie Lb4 gespielt!

Warum also 5.a3 spielen, wenn Schwarz sowieso nicht Lb4 spielen wird? Ich weiß es nicht! Noch verwirrender wird es, wenn wir eine Engine einschalten. Die gibt 5.a3 als eine der fünf besten Optionen für Weiß. Und fangt jetzt bitte nicht an zu lachen, aber ein weiterer Zug in den Top 5 ist 5.h3!

Was können wir also aus dieser kleinen Untersuchung lernen? 

1) Schach ist ein sehr kompliziertes Spiel und Computer erweitern unseren Horizont erheblich. Was früher ein großes No-Go war, kann heutzutage durchaus spielbar sein.

2) Ich werde sicher keine Schachengine kritisieren, die wahrscheinlich 1000 Punkte höher bewertet ist als ich. Wenn ich aber den Zweck eines Zuges nicht verstehe, würde ich ihn, nur weil ihn eine Engine vorschlägt oder weil ihn ein Supergroßmeister gespielt hat, niemals selbst spielen.

3) Wenn Euer Rating unter 1700-1800 ist, könnt Ihr von den alten Klassikern mehr lernen als von den Partien der heutigen Super-Großmeister.

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