So wird man ein Schachmeister
Für einen durchschnittlichen Anfänger ist der Weg zu einer Bewertung im Bereich von 1400 bis 1600 ziemlich unkompliziert. Man lernt so viele taktische Muster wie möglich, macht sich mit einigen grundlegenden Eröffnungsprinzipien vertraut und schon ist man da! Beachtet aber, dass ich zwar sagte, dass der Weg unkompliziert ist, aber einfach ist er überhaupt nicht ist. Wenn man jedoch Lust und Entschlossenheit zeigt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man dieses Level erreicht. Hilfsmittel, die einem beim Erreichen dieses Ziels helfen, haben wir bereits in diesem, diesem und diesem Artikel besprochen.
Wenn Ihr im Schach schnell Fortschritte erzielt und Euer Rating schneller steigt als der Kurs des Bitcoins, dann herzlichen Glückwunsch! Die gute Nachricht ist, dass Euer Rating im Gegensatz zum Kurs des gerade genannten Bitcoins niemals auf Null fallen wird. Die schlechte Nachricht ist, dass es im Gegensatz zum Bitcoin-Kurz umso schwieriger ist, eine besseres Rating zu erzielen, je höher Euer Rating steigt. Ich wette, Ihr kennt Dutzende von Spielern in Schachclubs, die schon seit einer halben Ewigkeit ein Rating zwischen 1800 und 2000 haben. Können solche Spieler noch Meister werden?
Wenn Ihr an einem großen offenen Schachturnier teilnehmt, werden Sie Dutzende von Partien sehen, die mit dem sogenannten London-System (1.d4 gefolgt von 2.Lf4) eröffnet werden. Es ist sowohl lustig als auch traurig zu sehen, wenn ein Spieler mit einem Rating von 1200 seine Partien mit diesen Zügen beginnt. Wenn Ihr diese Spieler fragt, warum sie sich für eine so ausgeklügelte Eröffnung entschieden haben, werden sie stolz antworten, dass es eine der Lieblingseröffnungen von Magnus Carlsen ist.
Carlsens Anforderungen an eine Eröffnung sind aber völlig andere, als die eines Clubspielers. Und obwohl das London-System eine absolut solide Eröffnung ist, kann man manchmal in Schwierigkeiten geraten. Besonders, wenn man blindlings der Empfehlung eines anderen folgt. Ein typisches Beispiel dafür ist diese Stellung:
Obwohl ein sehr starker Großmeister in einem Buch diese Stellung als gewonnen bezeichnete, ist sie doch Remis. Der arme Sam Shankland hat dem Autor des Buches aber vertraut und die Partie aufgegeben.
Eine der wichtigsten Fähigkeiten für jeden Schachspieler ist jedoch die Fähigkeit, kritisch zu denken. Ihr solltet niemals eine Aussage (einschließlich dieser) akzeptieren, ohne Euch vorher die einfache Frage zu stellen: "Warum?" Wenn Sie jede einzelne Variante oder Aussage eines starken Spielers kritisch analysiert, lernt Ihr, wie Großmeister zu denken und werdet dadurch vielleicht selbst zu einem Meister werden!
Ich möchte Euch eine Episode aus meiner Kindheit erzählen. Ich habe Jahre gebraucht, um einen von Anatoly Karpovs Kommentaren, der nur aus drei Sätzen bestand, zu verstehen.
In einem meiner älteren Artikel habe ich bereits eines meiner liebsten Schachbücher erwähnt. Es ist ein Teil der berühmten sowjetischen "Schwarzen Serie" über die besten Schachspieler aller Zeiten und ist eine Sammlung von Karpovs besten Partien. Das Buch wurde 1978 ins Englische und 2006 als "Anatoly Karpov - Meine besten Partien" ins Deutsche übersetzt.
In diesem Buch findet sich auch dieses, für Karpov typische, Meisterwerk:
Um die Tiefe von Karpovs Spiel zu verstehen, muss selbst ich seine Anmerkungen im Buch lesen. Für diesen Artikel ist aber nur Karpovs Kommentar nach dem 14. Zug interessant:
"Nach der üblichen Fortsetzung 14.Sd5 Dxd2+ 15.Kxd2 Lxd5 16.Lxd5 hat Weiß zwar einen deutlichen Raumvorteil, aber wenn Schwarz vorsichtig spielt und auf pseudo-aktive Züge wie 16...b5 verzichtet, ist die Stellung nur sehr schwer zu gewinnen. Nach dem Abtausch der Schwerfiguren hat Weiß jedoch das Läuferpaar und Schwarz hat Schwächen auf dem Damenflügel und somit hat Weiß exzellente Gewinnchancen."
Karpov spricht also über diese Variante:
Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen hatte, war ich 10 Jahre alt und der ganze Kommentar war für mich absolut unverständlich. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass ein Zug ein doppeltes Fragezeichen bekommt, wenn man ein Schachmatt übersieht oder zumindest eine Figur einstellt. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum der Zug 16...b5?? zwei Fragezeichen bekommen hat. Ich sah mir diese Stellung und diesen Kommentar immer wieder an und versuchte, die Weisheit des zwölften Weltmeisters zu verstehen. Es dauerte buchstäblich Jahre, bis ich alle Teile dieses Puzzles zusammengesetzt hatte.
Der zukünftige Großmeister Rustem Dautov, der zu dieser Zeit sowjetischer Juniorenmeister war, brachte mir dan die erste Lektion bei. Er hat mir deutlich gezeigt, dass es trotz eines erheblichen Raumvorteils sehr schwierig ist, dieses Endspiel zu gewinnen, wenn Schwarz nicht b7-b5 spielt. Schwarz hat einfach keine Schwächen, die Weiß angreifen kann:
Später fand ich in einem alten Buch diese Partie der Weltmeisterschaft Petrosian gegen Spassky. Besonders GM Boleslavskys Kommentar nach dem 17. Zug von Weiß fiel mir dabei auf.
Während meiner Partie und besonders während der Analyse mit Dautov, der ein großer Experte für die Variante war, wurde mir klar, dass der Zug b7-b5 grundsätzlich ein Fehler gewesen wäre. Ganz egal zu welchem Zeitpunkt er gespielt worden wäre hätte er mir eine sehr gute praktische Chance gegeben. Boleslavskys Kommentar war nur eine Bestätigung meiner Ergebnisse. Es ist nicht der b5-Bauer, der nach b7-b5 schwach wird. Es ist der a6-Bauer, der in Schwierigkeiten geraten kann!
Die folgende Partie bestätigt die Ergebnisse meiner mehrjährigen Forschung. Beachtet, dass ich Sc3-d5 erst gespielt habe, nachdem der Zug b7-b5 gespielt wurde. Dann habe ich tatsächlich den schwarzen Damenflügel mit a2-a4 aufgebrochen und danach war der a6-Bauer, obwohl er auf a5 zog, sehr schwach und ging schließlich verloren. Infolgedessen erhielt Weiß einen Freibauern auf der a-Linie, der die Partie auch entschied.
Natürlich ist es sehr ungewöhnlich, Jahre damit zu verbringen, die Bedeutung nur eines kurzen Kommentars von Karpov zu verstehen. Versucht aber doch die folgende Übung: Sucht Euch eine sehr gute Partie, die von einem Großmeister kommentiert wird und versucht, wirklich jeden einzelnen Kommentar zu verstehen. Wenn der Spieler schreibt "Weiß ist besser", dann fragt Euch: "Warum ist Weiß besser?". Wenn er behauptet, dass das Feld f4 schwach ist, dann versucht einem imaginären Schüler zu erklären, warum es schwach ist. Wenn Ihr in einer solchen Partie keinen Stein auf dem anderen belässt, habt Ihr wirklich etwas aus der Partie gelernt und seit auf dem besten Weg zu Eurem Meistertitel!