Schlechte, gute Züge!
Die letzte Europäische Mannschaftsmeisterschaft war für Peter Svidler ein Alptraum. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein elitärer Großmeister schon einmal vier Partien in Folge gegen meist schlechtere Gegner verloren hat!
Erst in der letzten Runde konnten wir endlich sehen, warum der Großmeister aus St. Petersburg zu Recht als einer der besten Spieler der Welt gilt, denn Weltmeister Magnus Carlsen musste sein ganzes Können aufbieten, um in einem sehr unangenehmen Endspiel zu überleben.
Das war jetzt nicht die aufregendste Partie, die ich jemals gesehen habe und ohne GM Golubevs Tweet hätte ich sie vielleicht schon vergessen. In diesem Tweet schrieb er, dass GM Svidler wegen 9...h5 nicht 9. Se2 gespielt hat. Ich wollte das zuerst gar nicht glauben. Meinte er wirklich, dass Carlsen 9...h5 gespielt hätte? Ernsthaft, 9...h5??
Magnus Carlsen beim European Club Cup. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Ich habe dieses System mit Weiß selbst gespielt und gewann damit sogar eine Partie bei einem der denkwürdigsten Turniere meines Lebens gewonnen:
Der Zug 9...h5 sieht so frevelhaft aus, dass ich ihn nicht mal in Erwägung gezogen habe. Weiß ist kurz davor auf den Damenflügel zu rochieren und einen Angriff auf dem Königsflügel zu starten und da soll Schwarz seinen König noch angreifbarer machen? Meint der das Ernst?
Ein kurzer Blick in die Datenbank ergab aber, dass dieser Zug seit 2017 ziemlich populär ist und Schwarz hat nach 9...h5 sogar die Mehrzahl der Partien gewonnen! Hier sind zwei neuere Beispiele:
Also, was ist hier los? Was ist die Methode in diesem Wahnsinn? Überraschenderweise stellt sich heraus, dass es für Weiß sehr schwer ist, nach 9 ... h5 einen Angriff zu starten! Ich weiß nicht, wer der erste Spieler war, der diesen schockierenden Zug gefunden hat, aber ich ziehe vor ihm meinen Hut.
Diese Episode beweist einmal mehr die Weisheit von David Bronstein, der über die folgende Stellung schrieb:
4.Dd2 sieht ja auch wirklich seltsam aus, aber Tigran Petrosjan hat es ja auch geschafft, einen ähnlich komisch aussehenden Zug in ein System zu verwandeln, dass heute seinen Namen trägt.
Seht euch die Züge 5...Dd7 und besonders den unnötigen Rückzug 6...Lf8 an. Sehen diese Züge nicht wirklich daneben aus? Trotzdem sind sie ein Hauptbestandteil des Petrosjan System in der Winawer Variante der Französischen Verteidigung!
Ich kann euch also nur empfehlen, dass ich euch an Bronsteins Ratschlag haltet und euch ab und zu Züge anseht, die auf den ersten Blick wirklich dumm aussehen.
Versucht eine verborgene Idee hinter solchen Zügen zu finden. Die Chance ist zwar 99.9%, dass ein dümmlich aussehender Zug auch wirklich dumm ist, aber vielleicht entdeckt ihr ja eine echte Perle.
Außerdem wird es sicher euren Schachhorizont erweitern, wenn ihr über den Tellerrand hinausblickt!