Das solltet Ihr nicht lernen!
Kürzlich erregte ein Artikel über ein Titled Tuesday Turnier meine Aufmerksamkeit, denn darin fand ich eine ziemlich ungewöhnliche Aussage: Manchmal zeigt die Aura dieser Spieler sogar bei anderen Großmeistern eine ziemlich starke Wirkung. Der ehemalige Weltmeister Vladimir Kramnik bekam in der 10. Runde von seinem Gegner in einer ausgeglichenen Stellung eine Aufgabe geschenkt." Tatsächlich gab der sehr starke ukrainische Großmeister Pavel Eljanov in einer Stellung auf, in der er laut Engine ein Dauerschach erzwingen hätte können. Urteilt selbst:
Natürlich handelt es sich beim Titled Tuesday um ein Blitzturnier mit einer Bedenkzeit von 3+1 und daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Eljanov zum Zeitpunkt der Aufgabe nur noch wenige Sekunden auf seiner Uhr hatte und in Zeitnot sind selbst die offensichtlichsten Züge nicht leicht zu finden. Die eigentliche Frage ist also nicht, warum er die Rettung nicht gefunden hat, sondern warum er aufgegeben hat.
Wenn man alt wird, bekommt man ganz automatisch das Rose-DeWitt-Bukater-Syndrom: Alles weckt alte Erinnerungen. Die Episode aus der Partie Eljanov-Kramnik hat mich über 20 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt.
Vom 27. November bis zum 23. Jänner 2002 wurde im Moskauer Kremlpalast die FIDE Weltmeisterschaft 2002 ausgetragen. Das K.-o.-Turnier endete mit dem rein ukrainischen Finale zwischen dem legendären Großmeister Vasyl Ivanchuk und dem jungen Wunderkind Ruslan Ponomariov. Obwohl Ivanchuk der große Favorit war, sicherte sich der 18-jährige Ponomariov den begehrten Titel. Der entscheidende Moment des Finales ereignete sich in der fünften Partie. Ivanchuk hatte eine völlig gewonnene Stellung, aber in Zeitnot verlor er die Partie!
Im Interview nach der Partie gab Ponomariov eine sehr interessante Antwort:
Frage: Nach einer der vorherigen Partien sagte Ivanchuk, dass Ponomariov noch lernen muss, aufzugeben.
Antwort: Es ist nie zu spät, um aufzugeben! Was meinen hartnäckigen Widerstand in schwierigen Stellungen angeht: Ich habe einfach versucht, bis zum Ende zu kämpfen. Und es hat Früchte getragen.
Fairerweise muss man sagen, dass Ivanchuk seinen Worten Taten folgen lässt. Werfen wir einen Blick auf die erste Partie in diesem Match:
Nach 23.c5 ist die schwarze Stellung schlecht. Sehr schlecht! Die Engine bewertete die Stellung in der vorherigen Partie mit -3, während sie die Stellung, in der Ivanchuk aufgab, "nur" mit +2 bewertet. Ja, es ist nicht ganz fair, das Ausmaß eines Nachteils allein anhand der Engine-Bewertung zu vergleichen, aber zumindest aus Engine-Sicht hatte Ivanchuk einen kleineren Nachteil im Vergleich zu Ponomariov, der nicht aufgab und die Partie am Ende sogar gewann!
Kommen wir zurück zur Partie zwischen Eljanov und Kramnik. Ich war überrascht, dass Eljanov nicht weiterspielte. Was war das Risiko? Im schlimmsten Fall würde er sowieso verlieren. Na und? Außerdem sind Blitzpartien für ihre Wendungen berüchtigt. Warum also nicht herausfinden, ob der Gegner in der Lage ist, seinen Vorteil in der wenigen Zeit die er noch hat, umzuwandeln? Ich vermute, dass Eljanov dem Rat seines alten Teamkollegen gefolgt ist und gelernt hat, aufzugeben.
Pavel Eljanov ist aber nicht der einzige. Auch Viswanathan Anand hat es gelernt. Könnt Ihr herausfinden, warum Weiß sofort nachdem er 22.Db5 gespielt hatte, aufgegeben hat?
Was wäre gewesen, wenn Anand nicht aufgegeben, sondern gewartet hätte, ob Shakhriyar Mamedyarov tatsächlich den vernichtenden Zug auf dem Brett ausführt. Hätte denn eine Chance bestanden, dass ihn Schwarz nicht gefunden hätte? Es darf zumindest bezweifelt werden, denn Mamedyarov ist einer der besten Angriffsspieler der Welt. Und doch weiß man nie. Hier haben wir ein Video, das genau diesen Moment zeigt. Mamedyarov scheint von Anands Aufgabe völlig verwirrt zu sein:
Leider haben aber nicht nur Großmeister gelernt, aufzugeben. Vereinsspieler machen es auch! Hier ist eine Partie von einem meiner Schüler:
Mein Schüler hatte mit 16... Dd4 seine Dame eingestellt und einen Zug später aufgegeben. Ich fragte ihn, warum er aufgegeben habe und er erklärte mir, dass er nach seinem großen Fehler sehr verärgert gewesen sei. Ironischerweise hatte er aber selbst nach dem Patzer immer noch einen erheblichen materiellen Vorteil. Aber das Witzigste an der Partie ist, dass Schwarz genau in dem Moment aufgab, als sein Gegner seine Dame ebenfalls eingestellt hat. Und genau aus diesem Grund habe ich vor sechs Jahren schon diesen Artikel geschrieben und erklärt, warum man niemals aufgeben sollte.
In Ponomariovs Interview gab es dann noch einen zweiten interessanten Moment:
Frage: Hast Du während der Partie gegen Ivanchuk etwas gesummt?
Antwort: (Mit einem Lächeln) "Der Tag des Sieges"!
Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Ivanchuk ein Genie ist und Ihr solltet nichts verpassen, was er über Schach sagt. Aber seine Bemerkung über das Erlernen des Aufgebens könnte ihr reinen Gewissens ignorieren, da er verständlicherweise sehr verärgert war, als er das sagte. Es ist etwas, das Ihr definitiv nicht lernen müsst! Befolgen Sie stattdessen Ponomariovs Rat und summt ein Lied, wenn Ihr kurz davor steht, aufzugeben.
Ponomariovs Wahl "Der Tag des Sieges" ist das mit Abstand das berühmteste sowjetische Lied über den Sieg gegen den Faschismus im 2. Weltkrieg. Es beginnt mit den Worten: "Der Tag des Sieges, oh wie weit war er von uns entfernt." Also, egal wie schwierig Eure Stellung ist, denkt immer daran, dass eine Schachpartie erst vorbei ist, wenn der König Schachmatt ist!