Schach am Scheideweg: Carlsen oder Nepomniachtchi?
Es gibt Fragen, die zu komplex sind und das Verständnis der menschlichen Wesen übersteigen, als dass wir sie beantworten könnten. Warum sind wir hier? Woher sind wir gekommen? Wohin gehen wir?
Eine andere große Frage, die niemand wirklich beantworten kann, ist: "Wer wird die Schachweltmeisterschaft 2021 gewinnen?" Also zumindest bis Ende des Jahres.
Anstatt zu versuchen, dieses unlösbare Geheimnis zu lüften, möchte ich über die große Bedeutung dieses Ereignisses für die Zukunft des Schachs schreiben.
Bereits vor 20 Jahren sagte GM Viktor Kupreichik, der einer der kreativsten Spieler seiner Zeit war: "Schach hat sich verändert. Heute ist es mehr Sport als Kunst. Heute geht es nur noch um das Ergebnis und nicht mehr um die Schönheit des Spiels."
Tatsächlich ist die Zeit, in der Mikhail Botvinnik Schach als eine Mischung aus Sport, Kunst und Wissenschaft bezeichnete, längst vorbei. Es wäre für den Patriarchen sehr schwierig zu erklären, warum eine Partie, in der zwei Super-Großmeister mit König und Turm gegen König und Turm spielen, Wissenschaft ist – geschweige denn Kunst.
In einem ganz aktuellen Interview hat Großmeister Rustam Kasimdzhanov diesen Punkt noch genauer ausgeführt. Für alle die kein Russisch sprechen habe ich die sehr wichtige Frage, die ihm gegen 4:50 gestellt wird, übersetzt.
F: Rustam, Du warst in den letzten 20 Jahren Sekundant von zahlreichen Elitespielern. Wie wird der Spielstil des nächsten Weltmeisters aussehen?
A: Ich denke, der nächste Weltmeister wird einen Stil wie (Nodirbek) Abdusattorov, (Magnus) Carlsen oder (Rafael) Nadal haben. Also ein vorwiegend defensiver Stil. Wahrscheinlich ohne viel Kreativität, aber dafür ein sehr klarer Stil, bei dem der Spieler vom Anfang bis zum Ende des Spiels ein sehr hohes Genauigkeitsniveau von über 90% beibehält. Das ist der Stil eines wahren Champions. Ich denke, die Ära von Kasparovs Stil ist vorbei. Ich denke, so kann man heute nicht mehr spielen. Meiner Meinung nach war Capablancas Stil ideal und passt perfekt zum aktuellen Schachniveau.
Da Kasimdzhanov viele Jahre als Sekundant für Viswanathan Anand und Fabiano Caruana gearbeitet hat, können wir seine Worte nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und wenn er Recht hat, ist das eine sehr traurige Nachricht.
Denkt mal darüber nach: Die meisten professionellen Schachspieler begannen ihre Schachreise, weil sie von der unglaublichen Schönheit des Spiels verzaubert waren. Als Kinder haben wir alle davon geträumt, unsere eigene "unsterbliche" oder "immergrüne" Partie zu spielen. Und immer, wenn sich meine Gegner für die Philidor Verteidigung entschieden, war mein erster Gedanke: "Wird mir mein Gegner erlauben, die Partie von Paul Morphy gegen Karl von Braunschweig und Graf Isoard zu wiederholen?"
Außerdem hat sich in einer meiner Partien die Schachkunst negativ auf das Ergebnis ausgewirkt. Überzeugt Euch selbst: Könnt Ihr in der folgenden Stellung einen einfachen Gewinn für Weiß finden?
Das war nicht besonders schwierig, oder? Leider dachte ich während der Partie, dass ich die Chance hätte, das berühmte Meisterwerk von Paul Keres in den Schatten zu stellen. In dieser berühmten Partie erwiesen sich zwei schwarze Bauern als stärker als die weiße Dame!
Und so fand ich eine Variante, bei der ich nur einen Bauern für meine Dame hatte, aber trotzdem gewinnen würde! Meine Berechnung wäre absolut richtig gewesen, wenn nicht ein einziger unerwarteter Zug die Partie auf den Kopf gestellt hätte. Könnt Ihr herausfinden, wie Schwarz mein Luftschloss komplett zerstört hat?
Ich bin mir sicher, dass Ihr alle schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht habt. Euer Meisterwerk, die Partie, die die Partie Eures Lebens hätte werden können, wurde durch ein winziges Detail, das Ihr übersehen habt, ruiniert. Aber trotzdem macht eine solche Niederlage immer noch glücklich. Das heißt, außer, diese Partie hat den Ausgang eines sehr wichtigen Turniers entschieden. Und hier kommen wir zurück zum heutigen Profischach.
Derzeit steckt das professionelle Schach auf hohem Niveau eindeutig in einer Krise. Es macht einfach nicht viel Spaß, fast jede Woche dem gleichen Dutzend Leuten dabei zuzusehen, wie sie die gleichen Eröffnungen und manchmal sogar genau die gleichen Züge spielen:
Im Schach gibt es die Regel, dass eine Partie bei einer dreifachen Stellungswiederholung Remis endet. Ist es an der Zeit, eine Regel hinzuzufügen, die die dreimalige Wiederholung einer Partie bestraft?
Wahrscheinlich genau aus diesem Grund rufen viele Leute nach Änderungen. Sei es Schach960 oder Schach ohne Rochade. Die Leute wollen Abwechslung. Die heutige Situation ähnelt übrigens ganz den Jahren, als Jose Raul Capablanca Weltmeister war. Der große Kubaner wurde wegen seines hochtechnischen Schachstils, der von Kasimdzhanov so sehr gelobt wird, seinerzeit als "Schachmaschine" bezeichnet.
Hier sind zwei Partien von einem Super-Turnier in Moskau. Capablanca hatte in beiden Weiß:
Ziemlich aufregend, oder? Auch damals fingen die Leute an, über "den Remistod des Schachs" zu sprechen. Capablanca selbst schlug eine neue Form des Schachs auf einem Brett mit 10x8 Feldern und zwei neuen Figuren vor. Dann aber gewann Alexander Aljechin die Weltmeisterschaft gegen Capablanca und das Gerede vom "Remistod des Schachs" verstummte. Und damit kommen wir nun endlich zur bevorstehenden Weltmeisterschaft.
Meiner Meinung nach kann die kommende Weltmeisterschaft für Magnus Carlsen die bisher schwierigste in seiner Karriere werden. In den letzten beiden Weltmeisterschaften gegen Sergey Karjakin und Caruana verteidigte der Weltmeister seinen Titel gegen Spieler mit einer ähnlicher Spielweise. Das Ergebnis waren zwei nicht besonders spannende Duelle, in denen die meisten Partien Remis endeten. Und beide Weltmeisterschaften wurden im Schnellschach Playoff entschieden.
Das kommende Duell in Dubai wird aber ganz anders werden. Wie GM Zenon Franco in seinem Buch über den Herausforderer schrieb: "Sowohl Garry Kasparov als auch Magnus Carlsen selbst glauben, dass Nepomniachtchis Stil aggressiver ist, als der der anderen Herausforderer." Wenn man bedenkt, dass Mikhail Tal Nepomniachtchis erstes großes Vorbild war, ist das aber keine große Überraschung!
Da aber ein Ian Nepomniachtchi in einer guten Form und ein Nepomniachtchi in einer schlechten Form zwei grundverschiedene Spieler sind, ist es schwer, eine gute Prognose über den Ausgang der Weltmeisterschaft abzugeben. Die große Frage ist also: "Welchen Herausforderer werden wir bei der Weltmeisterschaft zu sehen bekommen?"
Lasst es mich so sagen: Wenn (und das ist ein großes Wenn) Nepomniachtchi in seiner besten Form antritt, wird es kein Schnarch-Festival wie in den letzten beiden Weltmeisterschaften werden und wir werden ein großes Feuerwerk zu sehen bekommen! Und wenn der Herausforderer die Weltmeisterschaft gewinnen sollte (und das ist jetzt ein gewaltiges wenn), wird die Schachwelt nicht mehr dieselbe sein und wir werden aufhören, Rochaden zu verbieten und andere Regeln zu ändern.
Und deshalb denke ich, dass die Bedeutung der kommenden Weltmeisterschaft mit dem epischen Showdown zwischen Capablanca und Aljechin verglichen werden kann.