Pläne, Niederlagenserien und Petrosian
Hallo, hier bin ich wieder und beantworte Fragen der Chess.com Mitglieder. Wir beginnen mit einem Oldie, but Goodie: dem Erstellen von Plänen.
EINEN PLAN ERSTELLEN
Chess.com Mitglied @001GENERAL_GRIEVOUS stellte mir die Frage: “Sollte man nicht wissen, wie man einen Plan erstellt?”
Silman: Ich habe schon oft darüber geschrieben, aber weil es so viele Spieler nicht verstehen, schreibe ich gerne noch ein weiteres Mal darüber. Nehmen wir hierzu gleich eine Beispielpartie von @001GENERAL_GRIEVOUS.
Um die Frage zu beantworten:
Natürlich ist es wichtig, Pläne zu haben (eigentlich ist es sogar sehr, sehr, sehr wichtig). Einzügige Drohungen aufzustellen, ist oft ein Fehler (in Deiner Partie habt Ihr beide Drohungen aufgestellt, aber keine Pläne entwickelt). Wenn Du die Stellung nicht verstehst und nicht weißt, wohin Du Deine Figuren ziehen sollst, kannst Du einfach sagen: "Ich denke, ich schmiede einen Plan!"
Wenn Du gut werden willst, musst Du folgendes wissen:
- Du musst die Bauernstruktur verstehen.
- Du musst wissen, wohin Deine Figuren gehören (was von der Bauernstruktur abhängt).
- Erst dann benötigst Du einen Plan.
DER HORROR EINER NIEDERLAGENSERIE
Chess.com Mitglied @chriskr fragte mich, “Wie gehen Spieler mit Niederlagenserien um?”
Silman: Das ist bei jedem Spieler anders.
Hier sind einige Sachen, die Spieler bei einer Niederlagenserie machen (und ein schlechtes Turnier spielen oder 10 Blitzpartien zu verlieren ist keine Niederlagenserie):
- Einige Leute, mit großen Egos, haben schon aufgehört zu spielen.
- Einige Leute, mit wenig Selbstvertrauen, haben ebenfalls schon aufgehört.
- Einige Leute denken, dass sie eigentlich gute Spieler sind und nur Pech hatten.
- Einige Leute kämpfen, lesen Schachbücher und versuchen ihr Spiel zu verbessern.
- Einige engagieren einen Trainer und nehmen Unterricht. Wenn Du das machen willst, musst Du aber einen Trainer finden, der auf Deine schachlichen und psychologischen Bedürfnisse eingeht. Wenn Du Dich bei Deinem Trainer unwohl fühlst, solltest Du einen anderen finden (es gibt ja unzählige Trainer).
- Einige entscheiden sich, eine mehrmonatige Pause einzulegen und einige davon kommen nach dieser Pause zurück und sind stärker als je zuvor.
- Und einige lächeln selbst ihre 50. Niederlage weg und sagen: "Ich kann aus jeder Niederlage etwas lernen, also kommt nur her!"
Wie Du sehen kannst, geht jeder anders mit seinen Niederlagen um. Meine längste Niederlagenserie war lange und schmerzhaft und ich habe mehrere Turniere hintereinander wie ein Volltrottel gespielt. Als ich gemerkt habe, dass ich irgendetwas änder muss, ging ich zu einem chinesischen Akupunktur-Spezialisten. Nach einigen Behandlungen spielte ich 1982 die U.S. Open und wurde geteilter Erster!
PETROSIAN SPRICHT!
Chess.com Mitglied @Kamalakanta zeigte mir ein interessantes Interview. Der Interviewer war Viktor Khenkin und die Person, die interviewt wurde, war Tigran Petrosian. Es war aus dem Jahre 1979 und es war Petrosians 50. Geburtstag.
Viktor Khenkins Frage:
Es gibt die weit verbreitete Meinung, dass die einzigen Spieler, die sich im Wettbewerb behaupten können, diejenigen sind, deren Spiel nicht auf der Berechnung konkreter Varianten, sondern auf Positionsverständnis basiert. Diese Spieler verbrauchen weniger Energie und können somit der Spannung einer Turnierpartie besser standhalten. Ist das wahr?
Petrosian:
Ich finde, das stimmt nicht. Positionsverständnis ist zwar schon ein Zeichen für die große praktische Stärke eines Spielers. Mit den Jahren wird diese Fähigkeit jedoch auch abgestumpft. Es muss ständig stimuliert und modernisiert werden. Mit anderen Worten: Ein Spieler muss an Schachkunst arbeiten und analysieren.
Aber allein mit positionellen Verständnis werden Sie nicht weit kommen. Ohne einen scharfen taktischen Blick hat man keine Erfolgschancen. Wenn ein Spieler älter wird, verringert sich seine Rechenleistung jedoch erheblich und er muss diesen Mangel irgendwie kompensieren. Warum hat Botvinnik so lange seine große Kampfkraft behalten? Weil er diesen unaufhaltsamen Prozess früher als andere erkannt hat und sich selbst umprogrammieren konnte. Und wie hat er das gemacht? So wie ich es jetzt mache!
Obwohl ich noch nie in die Kategorie der "Schachrechner" eingestuft wurde, habe ich in meiner Jugend immer enorme Varianten am Brett erarbeitet. Ich habe sie ziemlich schnell und ziemlich tief berechnet. Heute kann ich auch noch tief und gut rechnen, aber nicht fünf Stunden am Stück. Ich kann meinen Computer jetzt nur noch ein oder zweimal im Verlauf einer Partie mit voller Leistung laufen lassen. Deshalb versuche ich, Eröffnungen zu wählen und Stellungen zu erreichen, in denen es nicht notwendig ist, eine Variante nach der anderen berechnen zu müssen. Wenn jedoch in einem kritischen Moment plötzlich die Notwendigkeit entsteht, eine Variante berechnen zu müssen, kann ich das noch genauso gut wie früher.
ES BRAUCHT ZWEI SPIELER, UM EINE ERÖFFNUNG AUF DAS BRETT ZU BEKOMMEN
Chess.com member @Mr_Hollwedel fragte mich: “Ich habe eine spezifische Frage zu Ihrem großartigen Kurs, in dem Sie ein grundlegendes Eröffnungsrepertoire vermittelt haben. Also über die Zukertort-Eröffnung für Weiß. Meine Gegner spielen gelegentlich (besonders in Blitzpartien) ... Lf5, bevor ich Ld3 spielen kann. Wo sollte ich in diesem Fall meinen weißfeldrigen Läufer platzieren?”
Silman: Die Zukertort Chigorin Variante ist keine Eröffnung, die in Stein gemeißelt ist. Schwarz hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, um eine spielbare Stellung zu erhalten. Zum Beispiel so:
Wenn Schwarz seinen weißfeldrigen Läufer auf f5 platzieren will, kann man das nicht wirklich verhindern. Obwohl vielleicht 1.d4 d5 2.Sf3 Lf5 und jetzt gleich 3.c4 der beste Aufbau dagegen ist, kann Weiß auch 3.g3 oder 3.Lf4 spielen.
Nach 1.d4 muss man mit 1...f5 oder 1...g6 oder 1...d6 usw. rechnen. Eröffnungstheorien sind endlos! Aber zu lernen, wie man seine Figuren vernünftig platziert verbessert das gesamte Spielverständnis und macht Dich somit zu einem besseren Spieler.
Hier ist ein Beispiel: Du bist Schwarz und Dein Gegner spielt 1.e4. Du antwortest mit 1...c5 und bist begeistert, weil Du die Drachenvariante in- und auswendig gelernt hast. Deine Begeisterung läßt aber schon nach, nachdem Dein Gegner 2.Sc3, gefolgt von 3.g3 (also den geschlossenen Sizilianer) spielt. So viel zur Vorbereitung. Dann spielst Du die nächste Partie und die beginnt wieder mit: 1.e4 c5. Wieder bist Du begeistert, aber jetzt kommt 2.c3. Argh!
Es braucht immer 2, um eine bestimmte Eröffnung auf das Brett zu bekommen. Das macht aber nichts. Solange Du verstehst, um was es bei einer Eröffnung geht, wirst Du keine Probleme haben.
Da Du mich jetzt nach einer Eröffnung gefragt hast, möchte ich Dir noch den Rat mit auf den Weg geben, dass Eröffnungen das letzte sein sollten, mit dem Du Dich beschäftigst. Da, Du solltest natürlich ein Eröffnungsrepertoire haben, aber die meiste Energie solltest Du für Taktiken und positionelles Verständnis aufbringen. Eine unterhaltsame Methode hierfür ist, indem Du Dir einen tollen Spieler der Vergangenheit aussuchst (am besten einen, der zwischen 1880 und 1930 gespielt hat) und seine Partien studierst. Ein guter Start dafür sind die beiden Bücher Mein System und Die Praxis meines Systems von Aron Nimzowitsch.
DEN GEGNER PSYCHISCH BESIEGEN
Chess.com member @cyboo hatte ebenfalls eine Frage: “Ich habe gerade mein erstes FIDE Turnier gespielt und es lief gar nicht so schlecht. Vor kurzem habe ich auch angefangen Dein Buch über Schachstrategien zu lesen und da war ein Kapitel über Psychologie im Schach enthalten. Kannst Du mir genauer sagen, wie ich meinen Gegner psychisch besiegen kann? Soll ich ihn... psychisch unter Druck setzten? Ihm Angst machen? Selbstbewusst erscheinen? Vielleicht so fest auf die Uhr schlagen, wie ich nur kann? Was würde funktionieren, wenn ich meinen Gegner einschüchtern will?”
Silman: Ich habe schon viele Spieler gesehen, die Ihren Gegner einschüchtern wollten. Das ging vom Ankündigen eines Faustkampfs bis hin zu einem Paar, bei dem sich die beiden Spieler gegenseitig mit ihren Stiften stachen und einem Spieler, der seinem Gegner ein Blatt Papier unter dem Tisch zusteckte, auf dem stand, dass er ihn verprügeln würde, wenn er nicht aufgibt. Heutzutage würden solche Menschen jedoch in ein mit 200 tollwütigen Meerschweinchen gefülltes Loch geworfen... Problem gelöst.
Wenn Du mehr über echte Schachpsychologie erfahren willst, solltest Du mein Buch How to Reassess Your Chess 4. Ausgabe lesen. Es hat 658 Seiten und 92 Seiten davon behandeln Schachpsychologie..
Einige der Themen sind:
- Überwindung von Angst
- Mit der eigenen Gier umgehen
- Ungleichgewicht gegen Material
- Mentaler Breakdown/Überwinden der “Ich kann nicht, aber ich muss" Falle
- Die Panik besiegen
- Das eigenen Spiel durchdrücken
- Macho Schach
- Es ist meine Party und ich ziehe was ich
- Der Fluch namens “Ich kann nicht!"
- Verschiedene Arten des Schachbewusstseins
- Zu wenig Geduld
- Faule Züge sind schlechte Züge
Viel Erfolg!
UNGEDECKTE FIGUREN!
Chess.com Mitglied @cmboivin hatte auch eine Frage: “Warum haben Averbakh und Emanuel Lasker nie über ungedeckte Figuren als taktische Angriffsziele gesprochen?”
Silman: Ich glaube, dass sich viele Großmeister nicht in Anfänger hineinversetzen konnten (oder können). Ich wäre ehrlich gesagt schockiert, wenn Emanuel Laster (der auch ein bemerkenswerter Mathematiker und ein enger Freund von Albert Einstein war) gesagt hätte: "Lass niemals eine Figur ungedeckt!"
Bei Averbakh und vielen anderen Schachprofils ist es wohl ähnlich. Averbakh liebte Endspiele und die meisten seiner Werke behandeln diese. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einmal zu einem seiner Schüler (die wahrscheinlich selbst sehr starke Spieler waren) sagen musste: "Lass Deine Figuren nicht ungedeckt!"
Meine Schüler hingegen haben eine Stärke von 1500 bis 1900 und sie lassen ständig ihre Figuren ungedeckt herumstehen. Deswegen weise ich sie immer wieder darauf hin und hoffe, dass sie diese Angewohnheit irgendwann einmal ablegen.
Ich glaube, dass viele Schachlehrer und Autoren, egal wie stark sie sind, ihren Schülern diesen Refrain immer wieder vorsingen: "Lass niemals eine Figur ungedeckt!" Die meisten Großmeister geben aber keinen Unterricht und wenn doch, dann nur sehr starken Spielern. Und deshalb singen sie nicht das "Lass niemals eine Figur ungedeckt" Lied.