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Moderne Schachtrends: Der zweischneidige Bauernvorstoß

Moderne Schachtrends: Der zweischneidige Bauernvorstoß

Gserper
| 75 | Taktiken

In der gesamten Schachgeschichte hatten sogenannte Superturniere immer einen ganz besonderen Stellenwert. Deshalb erinnern wir uns auch heute noch an Hastings 1895, New York 1924, Montreal 1979 und viele andere.

Was ist die Hauptattraktion all dieser Turniere? Geht es nur um die Gewinner und schöne Partien? Nun, teilweise ja. Wir können jedoch argumentieren, dass die durchschnittliche Qualität der Partien, die vor 100 Jahren gespielt wurden, nach modernen (Computer-)Standards nicht besonders hoch war.

Ich denke, der Hauptgrund, warum diese Turniere immer wieder analysiert und neu analysiert werden, ist, dass sie uns eine perfekte Momentaufnahme des damaligen Schachs liefern. So wie ein Archäologe Ihnen anhand einiger Artefakte aus jeder Epoche der Geschichte viel über das Alltagsleben der Menschen erzählen kann, geben uns die Partien der Superturniere einen Einblick in die Entwicklung des Schachs. Indem wir die Partien der besten Spieler analysieren, können wir die Schachtrends dieser Zeit nachvollziehen.

Hastings 1895
Die Teilnehmer von Hastings 1895. Foto: Horace F. Cheshire, public domain.

Die ersten beiden Superturniere dieses Jahres (Tata Steel und der Grand Prix in Berlin) waren da keine Ausnahme. Deshalb möchte ich heute über einen Trend sprechen, der bei Supergroßmeistern sehr beliebt geworden ist und von dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis er auch in den Partien anderer Leute zu sehen sein wird.

Vor vier Jahren sahen wir uns den Lieblingszug von Levon Aronian an, der sagte: "Du musst h4 spielen, wann immer Du die Möglichkeit dazu hast!" Heutzutage ist aber ein anderer Bauernzug der letzte Schrei. Wir haben ihn uns schon letzten Monat angesehen. Erinnert Ihr Euch noch daran?

Jorden van Foreest hat diesen Zug in der Partie nicht gefunden, aber die Computer behaupten, dass Weiß nach dem Vorstoß g2-g4 auf Gewinn steht!

Die Idee eines solch schockierenden Zugs ist aber nicht neu. Anfang der 1990er Jahre löste beispielsweise das berühmte Shirov-Shabalov-Gambit eine echte Eröffnungsrevolution aus.

Heute ist es bereits allgemein bekannt und selbst eine sehr frühe Ausführung dieser Idee schockiert uns nicht mehr wirklich:


Der neue Trend, von dem ich spreche, ist, den Springbauern nach der Rochade vorzuziehen. Bauern vor dem König zu ziehen ist nicht sehr üblich, weil es den König verwundbarer macht. Und wann immer ein solcher Zug geschieht, sorgt er für Aufmerksamkeit. Sehen wir uns zum Beispiel diese klassische Partie von Bent Larsen an:

Hier ist der Kommentar von Großmeister Tigran Petrosian zum Zug 14...g5: "Wenn ein solcher Zug von einem Anfänger gespielt wird, lächeln Großmeister nur. Wenn aber GM Larsen einen solchen Zug spielt, dann lächelt niemand."

Aber damals sah dieser Zug eher wie eine Kuriosität aus und fand nicht viele Anhänger. Heutzutage haben aber Computer unseren Schachhorizont erheblich erweitert und nach der Analyse seiner Partie gegen Surya Shekhar Ganguly, ließ sich van Foreest in seiner Partie gegen Magnus Carlsen nicht zweimal bitten:

Eine ganz ähnliche Idee verhalf Hikaru Nakamura zu seinem Sieg im Duell gegen Richard Rapport in Berlin:

In der Endstellung will Schwarz seinen Bauern nach g4 ziehen (genau wie van Foreest in der vorherigen Partie), was seinen schönen Springer auf e4 vor einem möglichen Angriff des weißen f-Bauern schützen wird. Die Stellung von Schwarz sieht zwar besser aus, aber natürlich gibt es noch viel Spiel. Ich schätze, der Vorstoß des g-Bauern hat Rapport psychologisch getroffen, weil er sofort einem Remis zugestimmt hat, was effektiv eine Niederlage war, da er mit diesem Remis aus dem Turnier ausgeschieden war.

Hier ist eine weitere starke g4-Idee, die von beiden Spielern übersehen, aber von einem Computer gefunden wurde:

Schließlich will ich Euch noch eine wirklich außergewöhnliche Partie zeigen, bei der beide Spieler gleichzeitig ihre Springbauern vor ihren Königen gezogen haben!

Wie Ihr gesehen habt, kann das Vorziehen des Springerbauers vor dem eigenen König zahlreiche Ziele verfolgen. Sowohl strategische als auch taktische. Das Ziel dieses Artikels ist es aber nicht, diese neue trendige Idee als Wunderwaffe zu präsentieren, die Eure Stellung magisch verbessert. Eigentlich solltet Ihr immer bedenken, dass sich Bauernzüge, die Euren König schwächen, häufiger als schlecht als gut erweisen. Ich wollte Euch nur zeigen, wie Computer unsere Wahrnehmung des Spiels verändern und diesen neuen Großmeistertrend gestartet haben.

Wenn wir anfangen Schach zu lernen, stellen wir schnell fest, dass die Rochade unserem König ein sicheres Zuhause bietet, in dem er von drei Bauern vor ihm bewacht wird. Daher sollten die Wachen ihre Pflicht nicht vernachlässigen und den eigenen König bloßstellen. Deshalb berücksichtigen wir in den meisten Fällen Züge wie g2-g4 überhaupt nicht. Ich hoffe, dass Ihr nach dem Lesen dieses Artikels zumindest anfängt, über solche Züge nachzudenken. Wenn Ihr seht, dass die Vorteile, einen Bauern vor dem eigenen König zu ziehen, die Risiken eindeutig überwiegen, dann machte es! Zumindest werdet Ihr nach der Partie sagen können: "Heute habe ich wie ein Supergroßmeister gespielt!"

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