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Kramnik und AlphaZero und neue Schachideen
The legendary 14th world chess champion Vladimir Kramnik writes about an exciting way to make chess more interesting.

Kramnik und AlphaZero und neue Schachideen

VladimirKramnik
| 629 | Eröffnungstheorie

Damit Schach gedeihen kann, brauchen wir eine neue Herausforderung.

Die zunehmende Stärke der Schachengines, Millionen von Computerpartien und das Volumen der Eröffnungstheorie, die jedem Spieler zur Verfügung steht, machen Schach auf höchstem Niveau weniger einfallsreich. Bei Superturnieren werden immer weniger Partien gewonnen und auch die Anzahl der Partien, die ich als "kreativ" bezeichnen würde, geht zurück.

So wurde zum Beispiel bei der Weltmeisterschaft 2018 zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana keine einzige Partie gewonnen. (Carlsen verteidigte seinen Titel erst in einem Schnellschach-Playoff.)

Dies ist aber nicht die Schuld der Spieler, sondern einfach nur die Realität, mit der sie konfrontiert sind. Man kann ja nicht erwarten, dass sie absichtlich ihre Chancen auf ein positives Ergebnis verringern, indem sie unangemessene Risiken eingehen, nur um unterhaltsamere Partien zu spielen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwierig es geworden ist, einen komplexen und interessanten Kampf zu forcieren, wenn der Gegner nur auf Nummer sicher gehen will. Sobald eine Seite eine relativ sterile Variante wählt, muss der Gegner nachziehen, was zu einer wenig originellen Partie und einem unvermeidlichen Remis führt.

Natürlich gibt es auch auf dem Top-Level noch einige faszinierende Partien, aber um das Schachspiel am Leben zu erhalten, müssen wir diesen Trend umkehren, bevor der Geist des Spiels abstirbt.

Zusammenarbeit mit DeepMind:

Also begann ich zu überlegen, was wir tun können, um das Spiel wiederzubeleben. Ich sprach mit Demis Hassabis, dem Gründer und CEO des Labors für künstliche Intelligenz DeepMind. Hassabis war einst einer der stärksten Nachwuchsschachspieler in Großbritannien und ist immer noch ein begeisterter Schachfan und ich bekam die Gelegenheit, meine Theorie mit der berühmten maschinellen Lernmaschine AlphaZero zu testen.

In Zusammenarbeit mit den DeepMind-Forschern Ulrich Paquet und Nenad Tomasev haben wir AlphaZero als Petrischale verwendet, um verschiedene Varianten zu testen und zu sehen, wie sich das Spiel entwickeln könnte. Letztendlich war es unsere Mission, eine Anpassung der Regeln zu entwickeln, um mehr Raum für menschliche Kreativität zu schaffen.

Die Schachregeln zu ändern ist ja keine neue Idee. Eine der meistgespielten Varianten ist das Fischer-Schach, auch bekannt als Schach960. Die vor kurzem ausgetragene Schach960 WM zog viel Aufmerksamkeit auf sich und endete mit einem Sieg von Wesley So.

Wesley So wins the Fischer Random World Championship over Magnus Carlsen. Photo: Lennart Ootes / Chess.com.
Wesley So gewinnt das Finale der Schach960 WM gegen Magnus Carlsen. Foto: Lennart Ootes / Chess.com.

Schach960 ist ein interessantes Format, hat aber auch seine Nachteile. Insbesondere die nicht traditionellen Startaufstellungen erschweren es vielen Amateuren "in die Partie zu kommen" und das Spiel zu genießen. Und wie mir viele Weltklassespieler privat gestanden haben, gilt das auch für sie. Schließlich scheint es auch an einer ästhetischen Qualität zu mangeln, die im traditionellen Schach zu finden ist, was es sowohl für Spieler als auch für Zuschauer weniger attraktiv macht, auch wenn Schach960 gelegentlich zu aufregenden Partien führt.

No-Castling Chess Kramnik Alphazero

Kein-Rochade-Schach:

Mein Ziel war es, eine Schachvariante zu finden, die nicht nur die Spannung und die entscheidenden Siege zum Schach zurückbringt, sondern auch ästhetisch ansprechend ist. Ziel war es, das Interesse am Schach neu zu wecken und sowohl Spieler als auch Zuschauer mit der immensen Komplexität und Kreativität des ursprünglichen Schachspiels vertraut zu machen.

Zu Beginn beauftragten wir AlphaZero mit der Erforschung einer Variante, bei der es keine Rochade gibt und beobachteten besonders AlphaZeros Verhalten in der Eröffnung. Das Ergebnis hat unsere Erwartungen sogar übertroffen!

Wir liesen AlphaZero von Grund auf lernen, wie man "No-Castling-Schach" spielt. So konnte das Programm die neue Schachvariante schrittweise durch Ausprobieren erlernen, ähnlich wie es sich das klassische Schachspiel selbst beigebracht hat. Nach Millionen von Partien wurde AlphaZero dann zum Keine-Rochade-Experten, sodass wir analysieren konnten wie es spielt und auch die Bilanz der Partien beurteilen konnten.

Die Sieg- / Niederlage-Prozentsätze für Weiß und Schwarz sind ähnlich wie beim klassischen Schach, was darauf hindeutet, dass die Keine-Rochade-Variante durchaus spielbar sein sollte und keinen bestimmten Spieler bevorzugt. Wenn verhindert wird, dass sich der König in eine sichere Ecke zurückzieht, müssen sich alle Figuren auf den Nahkampf einlassen, was das Spiel dynamischer und unterhaltsamer macht und trotzdem eine Reihe von Originalmustern behält.

Zwei Partien von AlphaZero in der "Keine-Rochade-Variante. Kommentiert von Kramnik.

Das waren aber noch nicht alle Vorteile dieser Variante. Das Rochadeverbot bedeutet, dass sich die Spieler nicht auf gespeicherte Muster verlassen können. Sie sind gezwungen, von Anfang an kreativ zu denken. Selbst wenn ein Spieler ein Remis erzwingen möchte, ist es nahezu unmöglich, alles zu kontrollieren. Außerdem macht es diese Variante selbst für Weiß praktisch unmöglich, auf Nummer sicher zu gehen, denn es ist so unglaublich schwer, einen absolut sicheren Platz für seinen König zu finden.

Schließlich würden auch Amateurspieler eine bessere Chance gegen erfahrenere Gegner, die ihnen in der Eröffnungstheorie überlegen sind, haben.

Alte Grenzen, neue Kreativität:

Bei einem Turnier mit dieser Variante würde die Anzahl der gewonnenen Partien auf jeden Fall erheblich steigen - ich schätze auf weit über 50 Prozent - und es würde eine Lawine an kreativen und überraschenden Ideen geben.

Es gibt noch viele Details zu untersuchen. Zum Beispiel scheinen die Eröffnungen in den AlphaZero Keine-Rochade-Partien komplizierter zu sein, was bedeutet, dass eine neue Eröffnungstheorie entwickelt werden müsste und die Spieler neue Ansätze für die Königssicherheit erforschen müssten. Aber nichts davon sollte die Schachgemeinschaft davon abhalten, diese Variante auszuprobieren.

Ich kann Organisatoren von Turnieren und Schachliebhabern auf der ganzen Welt nur empfehlen, diese Variante auszuprobieren.

Kein-Rochade-Schach hat das Potenzial, die Uhr zurückzudrehen und Kreativität und die Tiefe des Denkens wichtiger werden zu lassen, als das pure Auswendiglernen von Mustern und das Drücken der Leertaste, um den nächsten Zug des Computers zu sehen. Indem wir unsere Grenzen verschieben, können wir eine neue Generation von Spielern erreichen, originelle Ideen entwickeln und dem Schach eine aufregende, kreative und spannende Zukunft ermöglichen.

Was haltet Ihr vom "Keine-Rochade-Schach"? Schreibt Eure Meinung einfach in den Kommentaren.

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