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Ist Schach Sport, Wissenschaft oder Kunst?
What is chess to you?

Ist Schach Sport, Wissenschaft oder Kunst?

Gserper
| 112 | Bemerkenswerte Partien

Als wir angefangen haben die Schachregeln zu erlernen und unsere ersten Partien gespielt haben, war uns diese Frage sicher völlig egal.

Wir haben einfach das Spiel genossen! Aber fast jeder, der längere Zeit Schach spielt, stolpert irgendwann über die Frage: "Was ist Schach eigentlich?"

Die Antwort hängt von der Zeit ab, zu der diese Frage gestellt wird. Hätte man zum Beispiel Fabiano Caruana nach dem Tiebreak der letzten Weltmeisterschaft gefragt, hätte er wohl singend geantwortet: "What is chess? Magnus don't hurt me, don't hurt me no more."

Fabiano Caruana. Photo: Maria Emelianova / Chess.com.
Fabiano Caruana. Foto: Maria Emelianova / Chess.com.

Aber Scherz beiseite. Ich glaube, es war der große Mikhail Botvinnik, der Schach als eine Mischung aus Sport, Kunst und Wissenschaft bezeichnete.

Meiner Meinung nach lag er damit absolut richtig! Obwohl viele Leute behaupten, dass Schach für sie nur ein Element von Botvinniks Triade ist, erleben wir in unserem Schachleben in Wirklichkeit alle 3 Elemente.

Anfänger können die Schönheit des Spiels noch nicht erkennen. Deshalb geht es für sie nur ums Gewinnen. Nachdem ein Schachspieler etwas Wissen und Erfahrung gesammelt und einige Bücher gelesen hat und anfängt mit Datenbanken und Engines zu arbeiten, wird Schach zur Wissenschaft. Für mich als pensionierten Spieler dreht sich beim Schach alles nur noch um Kunst.

Es ist daher keine große Überraschung, dass verschiedene Menschen ein und dasselbe Spiel auf absolut unterschiedliche Weisen sehen. Nehmen wir zum Beispiel eine aktuelle Partie vom letzten Weltcup.

Einer meiner Schüler hat dem Weltcup ziemlich intensiv verfolgt. Er kannte die meisten Ergebnisse, konnte sich aber an keine einzige Partie erinnern. In dieser Partie ging es für ihn hauptsächlich darum, dass Ian Nepomniachtchi gewonnen hat. In der Tat ist es sehr beeindruckend, wie der russische Großmeister mit der Situation, dass Ihm ein Remis zu weiterkommen gereicht hat, umgegangen ist. Da er ja die erste Partie gewonnen hatte, hätte er auch auf Nummer sicher gehen können, aber er spielte voll auf Angriff und entschied die Partie durch eine schöne Kombination.

Für diejenigen unter Euch, denen die Königsindische Verteidigung nicht fremd ist und die nach einer Waffe gegen das ultra-solide (oder sollte ich sagen: langweilige) London-System suchen, ist diese Partie sicher eine Inspiration.

Für mich persönlich ist aber jede Partie (und besonders jede gute Partie) ein Kunstwerk. Genau wie Bücher oder Filme erwecken Schachpartien in mir persönliche Erinnerungen.

Merkt Euch:

Erinnerungen erhellen unsere Gedanken.
Neblige, aquarellierte Erinnerungen an die Art, wie wir waren.

Ja, bei Schachpartien dreht sich alles darum, wer wir sind und wie wir waren. Nehmen wir diese Partie von Nepomniachtchi. Die Partie hatte gerade erst begonnen und ich erinnerte mich sofort an ein unvergessliches Turnier, das ich vor über 30 Jahren gespielt hatte. Vassily Ivanchuk spielte am Brett neben mir und war dabei, ein strategisches Meisterwerk zu kreieren. Zuerst überspielte er seinen Gegner schon in der Eröffnung:

Ich bemerkte, dass Ivanchuk etwas von einer klassischen Partie abwich, die er definitiv kannte. Ich bin mit Ivanchuk aufgewachsen. Wir haben die gleichen Turniere gespielt, die gleichen Trainingslager gehabt und viel zusammen analysiert. Wenn ich also behaupte, dass Ivanchuk mit seinem fantastischen Erinnerungsvermögen jede klassische Partie kennt, könnt Ihr mir das glauben!

Findet Ihr hier die nächsten beiden Züge von Korchnoi?

Als ich diese Partie zum ersten Mal gesehen hatte, hat sie mich ziemlich beeindruckt. Schwarz vermeidet richtigerweise alle Abtäusche, auch wenn er dafür seine Springer zurückziehen muss. Ziemlich bald werden die weißen Figuren zurückgedrängt werden und unter erheblichen Platzmangel leiden. Deshalb vermied Kortschnoi den Tausch!

So endete die Partie:

In der Zwischenzeit erhöhte Ivanchuk seinen Positionsvorteil systematisch und das Ergebnis dieser Partie schien bereits festzustehen. In gegenseitiger Zeitnot erreichten die Gegner folgende Stellung:

Ivanchuk schlug den Bauern auf b3 und schlug dann so heftig auf die Uhr, dass sie vom Tisch fiel. Lars Bo Hansen blieb aber trotz seiner Zeitnot ruhig, griff nach der Uhr und stellte sie wieder auf den Tisch. Als Ivanchuk sah, dass die Uhr noch tickte, schnappte er sich sofort mit Lxa4 einen weiteren Bauern!

Jetzt erfüllte Kälte den Raum. Dutzende von Leuten, die um das Brett standen, konnten nicht verstehen, was da los war. Ja, Baron Münchhausen hat es geschafft mit einem Schuss 50 Enten zu töten, aber selbst er konnte unmöglich zwei Bauern mit einem Zug schlagen! Jetzt war Lars Bo Hansen war nicht mehr so ruhig: Sein gesamter Damenflügel hat sich direkt vor seinen Augen in Luft aufgelöst.

Der Turnierdirektor sah verwundert auf das Brett und konnte kaum glauben, dass einer der stärksten Spieler der Welt gerade zwei Züge hintereinander gespielt hat. Nach ein paar Sekunden völliger Stille wurde der Raum von einem herzlichen Lachen erschüttert. Der Turnierdirektor griff ein und stoppte die Partie. Als die Ordnung wiederhergestellt war, verließ ich den Turniersaal. Die weiße Stellung war völlig aussichtslos und es gab nichts mehr zu sehen.

Etwa 30 Minuten später kehrte ich zurück um mir die Ergebnisse der Runde anzusehen und sah auf dem Demobrett die Schlussstellung von Ivanchuks Partie. 

Das Ergebnis dieser Partie wurde aber als Unentschieden angegeben und daher habe ich den Verantwortlichen des Demobretts auf den Fehler hingewiesen. Er versicherte mir jedoch, dass die Partie tatsächlich mit einem Remis geendet war.

"Aber Weiß kann hier doch aufgeben!" war mein erster Gedanke und ich konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, was da bloß passiert war.

"Das weiß ich auch nicht," sagte der Mann, der für das Demobrett bediente. "Ivanchuk hat Remis geboten und sein Gegner hat es angenommen". Später habe ich dann Ivanchuk im Hotel getroffen und ihn gefragt, warum er in einer komplett gewonnenen Stellung Remis geboten hat. Er antwortete: "Solche Siege brauch ich nicht" und ging weiter.

Wie Ihr sehen könnt, können verschiedene Menschen beim Ansehen der Partie zwischen Tomashevsky und Nepomniachtchi ganz verschiedene Dinge sehen. Fans wird nur die Tatsache interessieren, dass Nepomniachtchi seinen Gegner ausgeschaltet und sich für die nächste Runde qualifiziert hat. Forscher werden ihre Datenbanken durchsuchen, Korchnois und Ivanchuks Partien finden und eine gute Waffe gegen das Londoner System finden. Für mich war diese Partie jedoch wie eine Zeitmaschine, die mich zurück in die gute alte Zeit brachte, in der das Gras definitiv grüner war!

Was ist Schach für Euch? Lass es mich in den Kommentaren wissen.

 

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