Ist Alireza Firouzja der wiedergeborene Capablanca?
Heutzutage spekulieren nicht nur Träumer über das Jahr, in dem Alireza Firouzja Weltmeister werden wird. Tatsächlich ist es für mich sehr schwer vorstellbar, was für ein Ereignis die aktuelle Nummer 2 der Welt davon abhalten könnte, innerhalb von fünf bis 10 Jahren den ultimativen Schachtitel zu gewinnen. Um ganz ehrlich zu sein, dachte ich vor 30 Jahren das Gleiche. Der einzige Unterschied war der Name: Damals war es Vasyl Ivanchuk. Das beweist aber nur die Weisheit von Yogi Berra, der ja bekanntlich sagte: "Es ist schwierig, Vorhersagen zu treffen, insbesondere über die Zukunft."
Unabhängig davon, ob Firouzja den WM-Titel holt oder nicht, es ist unbestreitbar, dass er ein enormes Talent hat. Als ich an irgendeinen anderen Spieler in der Schachgeschichte dachte, der eine vergleichbare natürliche Begabung für Schach hatte, war Jose Raul Capablanca der erste Name, der mir in den Sinn kam. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden großartigen Schachspielern konnte ich feststellen. Beginnen wir mit dem offensichtlichsten.
Die Geschwindigkeit
Capablanca gilt als einer der besten Blitzspieler aller Zeiten. In Ermangelung offizieller Ergebnisse (oder zumindest einiger Blitzpartien in einer Datenbank) fällt es mir schwer, Wahrheit und Mythos zu trennen. Zum Beispiel fällt es mir schwer, die Geschichte zu glauben, dass Capablanca während des berühmten Superturniers Moskau 1925 den russischen Meistern Zeitboni von einer Minute gegen fünf Minuten gab und fast alle von ihnen schlug. Der einzige wirkliche Beweis für Capablancas Stärke ist das Ergebnis seines Blitzmatches gegen Weltmeister Emanuel Lasker, das er 6,5-3,5 gewann. Außerdem haben wir Aufzeichnungen über ein wunderschönes Finish von einer dieser Partien. Könnt Ihr in dieser Stellung den einzigen Gewinnweg finden?
Warum Firouzja als einer der besten Blitzspieler der Welt gilt, ist viel einfacher nachzuvollziehen. Jeder kann sich Tausende von Blitz- und Bulletpartien ansehen, die er online gespielt hat. Genauso schön wie die oben erwähnten Perle von Capablanca ist Firouzjas Meisterwerk. Die Stellung von Weiß sieht hoffnungslos aus, da er einen ganzen Turm weniger hat. Kann er irgendwie überleben?
Tiefe strategische Konzepte
Es ist eine bekannte Tatsache, dass Capablanca die meisten seiner Partien aufgrund seines überlegenen strategischen Denkens gewann. Nehmen wir zum Beispiel die folgende bekannte Partie gegen einen der besten Strategen seiner Zeit und Autor des legendären Buches My System, Aron Nimzowitsch.
Und dann vergleichen wir die Partie mit dem folgenden Juwel:
Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Partien: Die gleiche Eröffnung (die Caro-Kann-Verteidigung); beide Großmeister, die Weiß spielten, waren zum Zeitpunkt der Partie in den Top-10 der Welt; die schwarze Dame und der Turm besetzten die dominierenden Felder c4 und e4; und schließlich konnte Weiß am Ende beider Partien kaum noch ziehen. Trotz aller Gemeinsamkeiten gefällt mir die Partie von Firouzja aber noch besser, denn Sergey Karjakin ist ja vor allem für seine Defensivfähigkeiten bekannt (daher der Spitzname "Der Verteidigungsminister") und hat keine offensichtlichen Fehler, wie zum Beispiel Nimzowitschs unverschämter Zug 16. g4, begangen.
Außerdem war ich sehr beeindruckt von Firouzjas neuartigem Konzept. Was machen wir normalerweise, wenn wir das Rochaderecht verlieren und unser Turm deshalb in der Ecke stecken bleibt? Richtig. Wir versuchen "per Hand zu rochieren", um den in die Enge getriebenen Turm in die Partie zu bringen. Daher würden die meisten von uns versuchen, so schnell wie möglich zu g7-g6 und Kg7 zu kommen, um "von Hand zu rochieren". Firouzja störte es aber gar nicht, dass er im Wesentlichen mit einem Turm weniger spielte und er verbesserte einfach seine Stellung am Damenflügel immer weiter. Erst nachdem er Weiß am Damenflügel komplett gelähmt hatte, erinnerte er sich an den armen Turm auf h8. Aber er spielte immer noch nicht das typische g6- und Kg7-Manöver. Stattdessen begann er einen Angriff am Königsflügel und spielte h5 und g5! Meiner Meinung nach ist dies eines der besten strategischen Partien des neuen Jahrtausends!
Angriffsschach
In dieser Abteilung hat Firouzja viel mehr Partien, mit denen er prahlen kann. Das sollte aber keinen Schachliebhaber, der die Geschichte unseres Spiels kennt, überraschen. In seinen jungen Jahren hat Capablanca zwar wie die meisten Spieler auch gerne angegriffen, aber leider stellte er schnell fest, dass er aufgrund seines überragenden strategischen Spiels und seiner tadellosen Technik keine zusätzlichen Risiken eingehen musste, um seine Partien zu gewinnen. Sein Spiel wurde sehr trocken und dadurch zeigte er nicht das ganze Ausmaß seines Talents. Hier ist, was Garry Kasparov zu diesem Thema sagt:
"Capa wurde von seiner alten Krankheit - einer gewisse Sorglosigkeit in seinem Spiel - eingeholt: Warum soll ich mich anstrengen, wenn ich doch sowieso gewinne? [...] Trotz seines überwältigenden Talents (oder wahrscheinlicher gerade deswegen) war sein wirklicher Beitrag zur Schaffung des modernen Schachs geringer, als der von Steinitz oder Lasker. Ihr Beitrag war enorm und grundlegend – sie waren die Gründerväter des modernen Schachs. Capablanca hingegen tat alles, um die Probleme, mit denen er konfrontiert war, zu vereinfachen, indem er sie in elementare Bestandteile zerlegte."
Diese Partie des 13-jährigen Capablanca veranschaulicht das:
Die Schach-Engines loben das Damenopfer und doch schrieb Capablanca viele Jahre später, als er bereits ein Anwärter auf den Weltmeistertitel war, folgendes: "Heute hätte ich sehr wahrscheinlich einfach 29.Dd2 gespielt und auch gewonnen, aber damals konnte ich der Versuchung, die Dame zu opfern, einfach nicht widerstehen."
Das ist ein sehr vielsagender Kommentar. Capablanca wusste, dass das Damenopfer gewinnen würde und dennoch hätte er eine einfachere Lösung bevorzugt!
Zum Glück ist Alireza Firouzja noch sehr jung und hat solche Probleme (noch?) nicht. Sehen wir uns die folgende Partie an, in der er seinen Springer für die Öffnung der langen Diagonale opferte. In seinem Fall mag es die Engine überhaupt nicht! Beide Partien sind übrigens eine hervorragende Ergänzung zu einem Thema, das wir vor gar nicht allzu langer Zeit behandelt haben.
Wie Ihr sehen könnt, besitzt Firouzja ein tiefes strategisches Verständnis, das mit dem von Capablanca verglichen werden kann. Allerdings ist Firouzjas Schach dank seiner täglichen Arbeit mit Schachengines dynamischer. Wir können nur spekulieren, wie sich Firouzjas Spiel entwickeln wird, wenn er älter und erfahrener wird, aber es ist absolut klar, dass er eine sehr blühende Zukunft vor sich hat.
Ich will diesen Artikel mit einer Schlussfolgerung beenden, der Ihr möglicherweise völlig widersprechen werdet. Wir erleben häufig Streitigkeiten zwischen den Fans der alten Meister und denen von heutigen Spielern. Selbst die absurdesten Meinungen (wie die Vorstellung, dass ein heutiger Großmeister Morphy locker besiegen würde), kann man nicht widerlegen, da es unmöglich ist, diese Meinung auf die Probe zu stellen. Ich denke aber, wenn Capablanca nicht im Jahr 1888, sondern 2003 das Licht der Welt erblickt hätte, würde sein Stil dem von Firouzja ähneln.