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Wenn ich in Ian Nepomniachtchis Kopf wäre

Wenn ich in Ian Nepomniachtchis Kopf wäre

Gserper
| 45 | Eröffnungstheorie

Ende März 1994 spielte ich im wunderschönen Norwegen bei den Oslo Open. Das Turnier war für mich vor allem aus zwei Gründen sehr denkwürdig: Erstens habe ich zusammen mit GM Ilya Smirin den geteilten ersten Platz errungen und zweitens hatte ich hatte auch die Gelegenheit, mich mehrmals mit dem legendären Großmeister David Bronstein zu unterhalten (obwohl es eigentlich so war, dass er geredet und ich ehrfürchtig zugehört habe).

Auch im Herbst seiner Karriere war Bronstein immer ein gefährlicher Gegner! Foto: Eric Koch/Dutch National Archives, CC.

Damals hatte ich noch keinen Computer, aber GM Viktor Bologan erlaubte mir jeden Abend, seinen Laptop zur Vorbereitung zu benutzen. Dabei konnte ich beweisen, dass man keinen Computer braucht, um ein Turnier zu gewinnen. Man braucht nur gute Freunde!

Da wir uns gemeinsam auf unsere Partien vorbereitet haben, wurde ich Zeuge der skurrilsten Vorbereitung, die ich je gesehen habe. Bologan sollte am nächsten Tag Weiß gegen Bronstein spielen. Eine schnelle Suche ergab über 2000 Partien der Legende. Wenn ich mich richtig erinnere, war die älteste davon eine Partie, die in den späten 1930er Jahren bei einer Meisterschaft im Pioneers Palace in Kiew gespielt wurde. Und genau mit dieser Partie begann Bologan seine Vorbereitung. Zuerst hielt ich es für einen Witz, aber dann wurde mir klar, dass er sie wirklich analysierte.

Einen Moment lang war ich sprachlos, aber dann fragte ich ihn: "Viktor, diese Partie wurde doch vor fast 60 Jahren gespielt und außerdem hatte Bronstein Weiß. Bologan lächelte und erklärte, dass es sehr wichtig sei, Bronsteins Denken zu verstehen, und dass die Partien aus seiner Kindheit dabei helfen könnten. Bis heute weiß ich nicht, ob mein Freund das ernst gemeint hat, oder ob er mich nur trollen wollte, obwohl es dieses Wort damals ja noch gar nicht gab.

Auf jeden Fall gewann Bologan am nächsten Tag eine schöne Partie mit einem überraschenden Damenopfer:

Diese alte Geschichte kam mir in den Sinn, als ich mir die Partie zwischen Ian Nepomniachtchi und Alireza Firouzja in der vierten Runde des Kandidatenturniers 2022 angesehen habe.

Das Kandidatenturnier war das wichtigste Turnier des Jahres 2022, denn der Sieger dieses Turniers bekommt die Chance, Anfang 2023 gegen Magnus Carlsen um die Schachweltmeisterschaft zu spielen und Ian Nepomniachtchi hat es überlegen gewonnen.

Wie Ihr Euch sicher erinnern werdet, habe ich ja in meinem letzten Artikel geschrieben, dass ich auf der Suche nach einem neuen "Sound" bin und mir deshalb besonders die Partien von Firouzja ansehen werde. Leider konnte ich in diesen Partien aber keinen neuen "Sound" entdecken. Ob es nun daran lag, dass er einfach nichts zu entdecken gab, oder ob ich schachlich völlig unmusikalisch bin, sei dahingestellt, aber Fakt ist, dass bereits die Eröffnungen für den jüngsten Teilnehmer des Kandidatenturniers eine mittlere Katastrophe waren. Die ganze Partie mit Kommentaren von Sam Shankland könnt Ihr Euch ja auf Chess.com in dem Artikel über diese Runde ansehen und deshalb will ich nur auf einige wichtige Punkte hinweisen:

Seht Ihr, was hier passiert ist? Firouzja hatte einen sehr seltenen Zug vorbereitet, doch vier Züge später begann er Zeit zu verbrennen und weitere vier Züge später hätte er bereits aufgeben können. Also, was ist da nur schiefgelaufen?

Obwohl ich früher selbst oft im Najdorf den Englischen Angriff gespielt habe, habe ich das vor etwa 40 Jahren getan, als das System noch völlig neu war. Und das war es eigentlich, was mich an dieser Eröffnung gereizt hat: Es waren keine theoretischen Kenntnisse erforderlich und man konnte einfach sofort den gegnerischen König angreifen. Ich erinnere mich noch lebhaft an diese Partie, die meine Besessenheit für dieses System ausgelöst hat:

Damals wurde angenommen, dass die Rochade im 12. Zug der Hauptgrund für die schnelle Niederlage von Schwarz war. Warum sollte man auch direkt in den Angriff des Gegners rochieren? Genau darüber haben wir ja auch schon vor einiger Zeit gesprochen.

Bei einer so dynamischen Eröffnung wie dem Najdorf sind 40 Jahre natürlich eine Ewigkeit und deshalb habe ich beschlossen, einen Blick in die Datenbank zu werfen, um zu sehen, was dort heutzutage so los ist. Die Ergebnisse haben mich schockiert.

Habt Ihr eigentlich den Film Being John Malkovich gesehen? Es gibt da eine ikonische Szene, in der der Protagonist Craig einen Tunnel entdeckt und von diesem direkt ihn in den Kopf des Schauspielers John Malkovich eingesogen wird. Dort findet er eine absurde Welt vor, in der jeder Mann und jede Frau wie John Malkovich aussieht. Außerdem können alle Menschen dort nur ein Wort sagen und das ist "Malkovich“. Deren Dialog klingt also so:

- Malkovich?

- Malkovich

- Malkovich!

Als ich mir jetzt die 89 Partien von Nepomniachtchi mit dem Englischen Angriff angesehen hatte (in 70 davon hatte er Schwarz), fing ich an, die Figuren miteinander reden zu hören. Aber anstatt normaler Schachbegriffe sagten sie nur "Nepomniachtchi." Es war also ungefähr so:

1.e4: Nepomniachtchi.

1...c5: Nepomniachtchi.

2.Sf3: Nepomniachtchi.

2...d6: tja, Ihr versteht was ich meine...

Ian Nepomniachtchi. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Wenn Firouzja dem Beispiel von Bologan gefolgt wäre und versucht hätte, in die Gedanken seines Gegners einzudringen, hätte er vielleicht die folgenden Punkte gesehen:

Firouzja rochierte im neunten Zug, aber Nepomniachtchi hat das nur acht Mal gemacht. 12 Mal spielte er 9...Sbd7 und hat die Rochade verzögert, um seinen König keinen direkten Angriff auszusetzen. Bemerkenswerterweise besiegte er Leinier Dominguez Perez dreimal mit dieser Variante. Die folgende Partie zeigt aber auch, dass Schach bis vor kurzem noch keine Grenzen kannte, denn der in Kuba geborene Amerikaner hatte bei der russischen Mannschaftsmeisterschaft mitgespielt!

Die Strategie der verzögerten Rochade, die sich schon vor 40 Jahren als am besten herausgestellt hat, macht also bis heute Sinn!

Dann spielte Firouzja im 11. Zug 11...b5. Nepomniachtchi hat diesen Zug zwar ebenfalls schon fünfmal gespielt, er scheint aber 11...Sb6 zu bevorzugen, denn diesen Zug hat er schon siebenmal gespielt hat. Um fair zu bleiben, sollte ich aber erwähnen, dass all diese Partien schon ziemlich alt sind und nach der folgenden Niederlage hat Nepomniachtchi auch aufgehört, diesen Zug zu spielen:

Im 15. Zug spielte Firouzja 15...Lc4. In seiner Analyse war Shankland von diesem Zug nicht gerade begeistert. Andererseits überzeugt mich auch der einst von Nepomniachtchi gespielte Zug 15...Lxb3 nicht wirklich:

Wie Shankland in seiner Analyse betont, ist der Zug 15...a4 aus gutem Grund bei weitem der beliebteste!

Versteht mich jetzt aber nicht falsch. Ich will Firouzja, der für kurze Zeit die Nummer zwei der Welt war, nicht beibringen, wie man den Najdorf-Sizilianer spielt oder wie man eine Datenbank benutzt. Er ist in beidem viel besser als ich. Aber wenn man Bologans Ansatz verwendet, kann man fast hören, dass die Figuren mit dem Namen Ihres Gegners zu sprechen beginnen und vielleicht ist das dann ein Warnzeichen, dass man seine Eröffnungswahl überdenken sollte.

Lasst es mich anders ausdrücken. In einer ihrer Weltmeisterschaftspartien wollte Boris Spassky seinen Gegner Tigran Petrosian mit einem relativ ungewöhnlichen Eröffnungssystem zu überraschen. Es gab jedoch ein kleines Problem: Das war eine von Petrosians Lieblingseröffnungen, als er jung war! Petrosian hat dann nicht nur die Partie gewonnen, sondern auch ein wahres Meisterwerk geschaffen. Überzeugt Euch selbst:

Wie Bronstein damals feststellte: "Boris hat Tigran eingeladen, auf genau dem Spielplatz zu spielen, auf dem er aufgewachsen ist." Und da wir diesen Artikel mit Bronstein begonnen haben, denke ich, dass es nur richtig ist, ihn mit diesem Zitat von Bronstein zu beenden!

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