Fischer gegen die heutigen Elite-Spieler
Wenn Ihr häufig Schachforen besucht, seid Ihr wahrscheinlich mit den endlosen Debatten über die Stärke von Schachspielern aus verschiedenen Epochen vertraut. Es wird immer jemanden geben, der die traditionelle Behauptung aufstellt, dass jeder anständige Meister der heutigen Zeit Paul Morphy vom Brett fegen würde. Dass der Charakter, der eine solche Behauptung aufstellt, normalerweise selbst weit unter dem Meisterniveau liegt, ist dabei nur Nebensache.
Es ist leicht, einer solchen Person, die eindeutig unter einem akuten Fall von Aktualitätsverzerrung leidet, zu empfehlen, mehr über Schach zu lernen. Aber was ist mit dem berüchtigten Interview von Hikaru Nakamura aus dem Jahr 2014, in dem er gefragt wurde, wie Bobby Fischer gegen die heutigen Topspieler wie Nakamura selbst abschneiden würde? Hikarus Antwort wurde zig Mal im Internet zitiert: "Fischer würde mit ziemlicher Sicherheit gegen uns alle verlieren!"
Man kann Nakamura viel unterstellen, aber oberflächliches Schachwissen gehört definitiv nicht dazu! Hat er also Recht?
Natürlich kann man Fischer nicht wieder zum Leben erwecken und seine Fähigkeiten gegen moderne Großmeister testen, aber ich werde trotzdem ein kleines Experiment versuchen. Diese Idee kam mir, als ich mir die Chess.com Global Championship angesehen hatte. Genau wie alle anderen habe ich die folgende schöne Kombination sehr genossen. Versucht mal, ob Ihr sie finden könnt:
Obwohl die Kombination sehr schön ist, ist sie auch ziemlich einfach. Also vermute ich, dass sowohl Morphy als auch der oben erwähnte anständige Meister von heute sie leicht finden würden. Aber was mich wirklich zum Nachdenken gebracht hat, ist eine Stellung aus der Eröffnung dieser Partie. Warum hat Weiß im 12. Zug den schwarzen Turm auf a8 nicht einfach geschlagen?
Nun, um fair zu sein, war eine einfache Frage für mich, da ich die Antwort seit meiner Kindheit kenne. Die folgende Partie von Fischer war für mich ein echtes Aha-Erlebnis.
Da wir uns diese Partie bereits in einem Artikel aus dem Jahr 2020 angesehen haben, wisst Ihr sicher, dass Fischer seine Stellung nur 3 Züge, nachdem Weiß auf a8 geschlagen hatte, als Gewinnstellung bezeichnete. Nodirbek Abdusattorov erhielt in seiner Kindheit ein klassisches Schachtraining und daher ist es nicht verwunderlich, dass er nicht auf diese Falle hereingefallen ist. Lasst mich aber noch einmal auf den Artikel der letzten Woche zurückkommen. Erinnert Ihr Euch noch?
Oder werfen wir einen Blick auf eine andere aktuelle hochkarätige Partie zwischen den Großmeistern Magnus Carlsen und Anish Giri:
In seinen Anmerkungen schreibt Carlsens wichtigster Sekundant GM Peter Heine Nielsen über den Zug 16...Dxa1: "Ein kontroverser Zug, der Meinungen hervorrief, die von einem verständlichen Fehler bis zu einem kriminellen Missverständnis der Stellung reichten. [...] Für einige, einschließlich Magnus und GM Jan Gustafsson, schien dieser Zug offensichtlich zu sein, während ihn andere, wie Anish Giri oder ich selbst, weniger offensichtlich fanden [...] Die Computer sind aber gnadenlos und bezeichnen den Damenzug als einen schweren Fehler und bewerten die Stellung für Weiß sofort als gewonnen."
Mir gefällt dieser Kommentar, weil er sehr lehrreich ist, aber ich würde wirklich gerne Fischers Reaktion darauf sehen. Wenn er nicht vor Lachen sterben würde, könnte er sich auf die Bewertung beziehen und behaupten, dass Weiß gewinnt. Oder vielleicht würde er lange über die Verschwörung moderner Elitespieler schimpfen, die versuchen, sein Schacherbe auszulöschen. Wer weiß schon, was das verrückte Genie tun würde? Eines ist klar: Dieser "umstrittene" Zug war für ihn wirklich Schach 101.
Hier ist ein weiteres Beispiel aus diesem Turnier:
In diesem Fall war das Schlagen auf a8 kein entscheidender Fehler, da Weiß jederzeit durch Zugwiederholungen ein Remis erzwingen konnte. Während Richard Rapport zwar von Schachfans auf der ganzen Welt für seinen unübertroffenen Kampfgeist gelobt und bewundert wird, hat ihn sein Positionsverständnis in diesem Fall im Stich gelassen - und er hat dafür einen hohen Preis bezahlt.
Wie Ihr an diesen Beispielen sehen könnt, ist etwas, das für Fischer elementar war, für moderne Elitespieler nicht so offensichtlich. Liegt Nakamura also mit seiner am Anfang dieses Artikels zitierten Aussage völlig falsch?
Leider zitieren die meisten Quellen nur den ersten Teil seiner Antwort. Hier ist, was der amerikanische Schach-Superman tatsächlich gesagt hat: "Fischer würde mit ziemlicher Sicherheit gegen uns alle verlieren, aber das liegt daran, dass sich das Spiel so grundlegend verändert hat. Wenn Fischer ein paar Jahre Zeit hätte, Computer zu benutzen, würde er wahrscheinlich auf dem gleichen Level wie wir spielen." Und jetzt ergibt seine Aussage absolut Sinn!
Wenn wir den Bobby Fischer von 1972 zurückbringen könnten, ihm moderne Engines und Datenbanken zum Üben und ein paar Jahre Zeit geben, würde ich bei einem Match von Fischer gegen jeden aktuellen Top-Spieler mein Geld auf Fischer setzen. Außer gegen Carlsen, denn der spielt in einer eigenen Liga und wie Nielsen feststellte war das Schachmuster, das wir heute besprochen haben, für Magnus genauso offensichtlich wie für Fischer!