Eine brillante Partie mit einer überraschenden Wendung
Wir alle lieben überraschende Wendungen und deshalb sind sie besonders in Hollywood sehr beliebt. Nach seinem bahnbrechenden Kassenknüller "Der sechste Sinn" beschloss der Produzent des Films, M. Night Shyamalan, dass jeder einzelne Film, den er künftig produzieren würde, ein ähnlich überraschendes Ende haben sollte. Infolgedessen kann ich beim Anschauen seiner Filme nicht anders, als von Anfang an zu raten, welche Wendung am Ende vorbereitet wird. Und dann, wenn die Wendung der Handlung endlich enthüllt wird, möchte man sich manchmal den ganzen Film am liebsten noch einmal ansehen, da die Tatsache, dass der Protagonist schon lange tot war, den ganzen Film verändert.
Heute möchte ich Euch eine sehr schöne Partie zeigen, das eine ähnliche Wendung hat. Aber im Gegensatz zu M. Night Shyamalan enthülle ich die Wendung schon ganz am Anfang, sodass Ihr die Partie nicht noch zweimal nachspielen müsst, um wirklich zu verstehen, was hier wirklich passiert ist. Beginnen wir also gleich mit der Partie:
Eine Kaskade von Opfern gipfelte in einem sehr niedlichen Schachmatt. Ich könnte jetzt so tun, als hätte ich eine nie zuvor veröffentlichte Partie von Alexander Aljechin gefunden, aber da ich ja bereits eine Überraschung angekündigt habe, werde ich sie sofort enthüllen. Die Partie wurde von einem meiner Schüler gespielt. Und nun, meine lieben Leser, frage ich Euch, ob Ihr das Rating meines Schülers erraten könnt. Höre ich 2000? Nö! 1500? Näher, aber immer noch falsch. Sein USCF-Rating (also das amerikanische Pendant zur DWZ, bzw. zur nationalen Elo (Österreich) oder Führungszahl (Schweiz)) liegt unter 600! In der Tat ist es sogar näher an 500 als an 600!
Mein Schüler schickte mir per E-Mail seine Partien, die er an einem Wochenende gespielt hatte und als ich über die oben erwähnte Partie stolperte, war ich sprachlos. "Das kann doch nicht wahr sein!" war alles, was ich denken konnte. Ja, im Laufe der Jahre haben mich einige meine Schüler schon mit hervorragenden Partien überrascht. Zum Beispiel habe ich in diesem Artikel das Spiel meines Schülers mit dem eines berühmten Großmeisters verglichen. Aber in diesem Fall war das USCF-Rating des Schülers 1500 und nicht 500!
Noch nie in meinem Leben habe ich so sehnsüchtig auf eine Trainingsstunde mit einem Schüler gewartet, weil mir die natürliche Frage "Wie ist das überhaupt möglich?" nicht aus den Gedanken gehen wollte. Dann war der Tag endlich gekommen und wir konnten die Partie besprechen.
Der weiße Angriff begann mit einem coolen kleinen Bauernopfer.
Diese Art von Bauernopfern ist bekannt und kommt in vielen Eröffnungen vor. Hier ist nur ein Beispiel von vielen:
Ich hatte aber so meine Zweifel, dass mein Schüler dieses Opfer kannte. "Oh, da habe ich einen Bauern eingestellt!" beantwortete er meine Frage. Um ganz ehrlich zu sein, hat mich das auch nicht besonders überrascht. Zunächst einmal sind Fehler ein wesentlicher Bestandteil des Schachspiels auf einem Niveau unter 1000 und außerdem hat er auch später in der Partie noch einen groben Fehler gemacht:
Um meinem Schüler große Anerkennung zu zollen, gab er nach seinem Fehler nicht auf, sondern spielte eine Reihe starker Züge, die die Partie komplett auf den Kopf stellten:
Das Qualitätsopfer 18. Tfe1 gefällt mir ganz besonders gut! Es erinnert mich an eine ikonische Partie von Bobby Fischer:
Ich war mir aber absolut sicher, dass mein Schüler Fischers Partie noch nie gesehen hatte. Wie hat er dieses Opfer dann selbst gefunden? "Ähm, da habe ich leider einen Turm eingestellt", gestand mein Schüler verlegen. Obwohl es ein bisschen enttäuschend war, war die folgende Kombination, die sogar ein Damenopfer beinhaltetete, aber kein Fehler. Oder etwa doch?
"Das war ein echtes Opfer und kein Fehler!", versicherte mir mein Schüler. Ich war sehr stolz auf ihn! Ja, er hatte zwar die einzige Verteidigung von Schwarz, den Zug 22...Tf7 nicht gesehen und nur 22...Kh8 erwartet, aber trotzdem ist das Opfer für ein sehr junges Kind wirklich beeindruckend.
Und jetzt kommt der traurige Teil der Geschichte. Das schöne Schachmatt, das ich am Anfang des Artikels gezeigt habe, ist nicht wirklich passiert (habe ich Euch nicht eine überraschende Wendung versprochen?). Mein Schüler verpasste ein erzwungenes Schachmatt in vier Zügen und verlor die Partie:
Trotz der zahlreichen Fehler ist das auf vielen Ebenen eine sehr lehrreiche Partie. Zunächst einmal zeigt sie, dass man kein Großmeister sein muss, um kreatives Schach zu spielen und möglicherweise ein Meisterwerk hervorzubringen. Außerdem lehrt sie, dass man seinen Gegner, völlig unabhängig von seinem Rating niemals unterschätzen sollte: Jeder ist in der Lage, die Partie seines Lebens zu spielen, wenn ihm die Schachgöttin Caissa zur Seite steht!
Schließlich sollte man keine Angst haben, Fehler zu machen. Mehr als einmal habe ich Spieler gesehen, die aus Angst vor Fehlern sehr konservativ spielen. Fehler sind unvermeidlich und nur aus Fehlern lernen wir. Und obendrein wird man früher oder später sein eigenes Meisterwerk, auf das man sein Leben lang stolz sein kann, produzieren, wenn man aggressives Angriffsschach spielt.