Die vergessene Nummer 1 der Welt
Ihr könnt jeden Schachspieler nach einem Großmeister, der es verdient gehabt hätte, Weltmeister zu werden, fragen und Ihr werdet immer die gleichen Namen hören.
Bronstein, Korchnoi und Keres werden auf dieser Liste ganz oben stehen. Danach wird die Liste schon subjektiver. Auf Reddit habe ich sogar schon den Namen Rashid Nezhmetdinov gelesen, aber obwohl Nezhmetdinov einer meiner Lieblingsspieler ist, muss ich fairerweise zugeben, dass er dem Weltmeistertitel noch nicht einmal nahe gekommen ist.
Ein Spieler, der es aber durchaus verdient gehabt hätte, auf dieser Liste zu erscheinen, aber so gut wie nie erwähnt wird, ist Reuben Fine.
Ich denke, dass dies seiner relativ kurze Schachkarriere geschuldet ist, aber auf jeden Fall ist Fine einer der am meisten unterschätzten Weltranglistenersten (laut Chessmetrics war er sogar sechsmal die Nummer 1 der Welt).
Wie die meisten sowjetischen Schachspieler war ich lange Zeit mit Fines Schacherbe praktisch nicht vertraut. Dieses Problem hat seine Wurzeln in den 1930er Jahren, als der berühmte und einflussreiche sowjetische Großmeister Peter Romanovsky den Begriff "Flohr-Fine-Spielstil" erfand und sich dabei auf Salo Flohr und Reuben Fine bezog.
Laut Romanovsky war es typisch für Flohr und Fine, sich auf die Eröffnungstheorie zu verlassen und jegliche Schwächen in ihren Stellungen vermeiden. Angeblich vermieden sie auch scharfe Stellungen und Opfer und verliesen sich nur auf ihre Technik.
Romanovsky bezeichnete den Flohr-Fine-Stil als das Gegenteil der sowjetischen Schachschule, die ja für ihren kreativen Stil berühmt war.
Romanovsky war ein starker Schachspieler und ein guter Schachautor (sein zweibändiges Buch über Mittelspiele wurde ein Klassiker). Es ist schwer zu sagen, ob er wirklich an das glaubte, was er predigte, denn es ist eine offensichtliche Tatsache, dass Salo Flohr und Reuben Fine unterschiedliche Spielstile hatten.
Seine Artikel über den "Flohr-Fine-Stil" war wahrscheinlich nur Teil der für das Ende der 1930er Jahre typischen sowjetischen Propaganda. Das Klischee setzte sich aber durch, besonders, weil in den sowjetischen Schachmagazinen nur Partien gezeigt wurden, in denen Fine schlecht gespielt und verloren hatte.
Zum Beispiel habe ich in den meisten Büchern, die in der UdSSR zu den Themen Taktik und Eröffnungsfallen veröffentlicht wurden, diese Partie gefunden:
Jetzt könnt Ihr Euch sicher vorstellen, wie interessant es für mich war, Reuben Fines Buch A Passion For Chess zu lesen. Dieses ausgezeichnete Buch ist viel mehr, als nur eine typische Biografie. Es ist eher eine Momentaufnahme des Schachlebens dieser Zeit. Ihr solltet dieses Buch auf jeden Fall selbst lesen. Ich verspreche Euch, dass Ihr dabei etwas Neues lernen werdet.
Ich habe beim Lesen dieses Buches gemerkt, dass sich im Schach in den letzten 80 Jahren nichts wirklich geändert hat - alles was immer noch das Gleiche.
Vielleicht kennen Ihr dieses klassische Gedicht von Alexander Blok:
Nacht, Straße, Laterne, Apotheke,
Sinnloses und gedämpftes Licht.
Lebe mindestens ein Vierteljahrhundert -
Alles wird so sein. Es gibt kein Ergebnis.
–
Wenn du stirbst, fängst du wieder an
Und alles wird sich wie zuvor wiederholen:
Nacht Eiskanal kräuselt
Apotheke, Straße, Laterne.
Hier sind einige Beispiele aus Reuben Fines großartigen Buch:
Ich war schon unter den drei oder vier Besten des Landes. [...] Bis dahin hatte ich keine Schachbücher gelesen.
Hikaru Nakamura war also nicht der erste Schachspieler, der keine Schachbücher gelesen hatte.
Die große Anzahl an Turnieren [in Europa] garantierte ein angenehmes Leben, war aber auch ziemlich anstrengend. Die meisten Schachmeister sparten sich ihre Energie für zwei oder drei große Turniere pro Jahr auf.
Und wie sie das machen!
Aljechin war ein sehr Sadist ... Bogoljubov ließ einige seiner Rivalen in Konzentrationslager einliefern..
Ich denke, so hätte auch der berüchtigte Austausch zwischen Aronian und Giri ausgesehen, wenn Twitter nicht erfunden worden wäre.
In den 1930er Jahren war es noch möglich, Gelder für Reisen zu Turnieren ins Ausland zu sammeln. Später [...] schlug ein solcher Versuch oft fehl ... Gegen Ende des Krieges interessierte sich der wohlhabende Philanthrop Maurice Wertheim für Schach und finanzierte 1946 eine Teamreise nach Russland und zu einigen anderen Ereignissen. Infolgedessen waren alle auf Wertheims Gunst angewiesen.
Die US-Meisterschaft 2000 wäre aus finanziellen Gründen fast abgesagt worden, konnte aber glücklicherweise im allerletzten Moment gerettet werden. Die US-Meisterschaft 2004 wurde leider nicht gerettet und bei der US-Meisterschaft 2006 stellten die Organisatoren bei der Abschlussfeier fest, dass sie nicht genug Geld hatten, um die angekündigten Preise auszuzahlen. Daher wurden, trotz unterzeichneter Verträge, das angekündigte Preisgeld um 10 Prozent reduziert!
Erst als Rex Sinquefield seine Liebe für den Schachsport entdeckte, änderte sich die Situation. Jetzt gedeiht das US-Schach!
Ich könnte noch weitere Abschnitte aus dem Buch zitieren, aber ich hoffe ja, dass Ihr das Buch selbst lest und will Euch nicht die Vorfreude darauf verderben. Die Partien im Buch beweisen aber, dass der "Flohr-Fine-Stil" nichts als Propaganda war.
Natürlich hat Fine, genau wie jeder Super-GM, in vielen seiner Partien seine feine Technik demonstriert. Hier ist ein gutes Beispiel dafür:
Es gibt nicht viele Partien, in denen Botvinnik so dermaßen überspielt wurde! Um aber beim "Flohr-Fine Stil" zu bleiben. Ich möchte Euch noch diese Partie zwischen den beiden zeigen, die alles andere als Langweilig ist!
Dies ist ein Paradebeispiel für einen guten Angriff. Ich mag besonders die Züge 11 und 12 von Fine, die ihm geholfen haben, die Stellung zu öffnen. Wie er in seinem Kommentar nach dem 21. Zug zutreffend betonte, "die Stellung ist jetzt einfach zu spielen; viel schwieriger war es, diese Stellung zu bekommen."
In diesem Artikel haben wir schon darüber gesprochen, wie wichtig es ist, dass alle Figuren in einem Angriff eingebunden werden. Die folgende Partie ist ein tolles Beispiel dafür:
Diese Partien von Reuben Fine zeigen, dass er ein sehr vielseitiger Spieler war, der eine sehr gute Chance gehabt hatte, Weltmeister zu werden, wenn er es nur etwas länger versucht hätte.