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Die Kunst der Zeiteinteilung

Die Kunst der Zeiteinteilung

DanielNaroditsky
| 61 | Andere

"Wir arbeiten 25 Stunden am Tag." 

"Aber ein Tag hat doch nur 24 Stunden!"

"Wir fangen einfach eine Stunde früher an." 

Eternal Call, eine sowjetische Fernsehserie (1973-83)

Die Besessenheit unserer Gesellschaft von der Zeit ist grenzenlos. Es ist das goldene Zeitalter der Atomuhren, Termine, Wecker, Erinnerungen und digitaler Kalender. "Alarmy", die App, die mich daran gehindert hat, auch nur eine Vorlesung zu verschlafen, zwingt ihren masochistischen Besitzer, einen vorgegebenen Ort zu fotografieren, um den ohrenbetäubenden Ton zum Schweigen zu bringen.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, beginnen wir unsere Reise mit einer Erkundung dessen, was Blitz ausmacht: Die Zeit.

chess clock

In der Weltspitze des Blitzschachs findet man Spieler mit jedem erdenklichen Spielstil: Es gibt sowohl reine Taktiker, als auch brillante Strategen und hervorragende Allrounder. Aber jeder Blitz-Experte besitzt die Fähigkeit, seine Zeiteinteilung spielend und spielerisch zu verwalten. Viele Akteure gehen heute davon aus, dass das Zeitmanagement im Wesentlichen auf drei grundlegende Prinzipien zurückzuführen ist:

1. Du musst schnell sein;

2. Du musst schnell sein;

3. Du musst schnell sein. 

Die Realität ist viel komplexer. Das Ziel des Zeitmanagements ist sicherlich, schnell zu sein, aber jemanden zu sagen, dass er einfach schneller ziehen muss, ist nutzlos. Die Frage, die wir angehen werden, ist nicht, ob es wichtig ist, schnell zu sein und nicht zu verlieren, sondern wie man schnell sein kann und nicht verliert. Außerdem: Was genau bedeutet eigentlich schnell?

Dass die allgemeine Schachverbesserung direkt proportional zur Geschwindigkeit ist, versteht sich von selbst. Generell gilt: Je besser man Schach spielt, desto besser wird der Kompromiss zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit ausfallen. Aber Zeitmanagement ist eine Kunst für sich. Ich habe meine eigene Philosophie des Zeitmanagements in fünf Prinzipien zusammengefasst, die ich genauestens befolge und die direkt zu meinem Erfolg bei Blitz beigetragen haben.

Entscheidend ist, dass diese Prinzipien unabhängig von der Spielstärke angewendet werden können. Ich behaupte nicht, dass sie die ultimative Philosophie des Zeitmanagements darstellen, aber ich hoffe, dass sie einen Rahmen bieten, den jeder an seinen eigenen Stil und Vorlieben anpassen kann. Tauchen wir ein!

Prinzip 1: Verschwende keine Zeit, bevor die Partie beginnt (wörtlich und im übertragenen Sinn).

Ich gehe mal davon aus, dass ihr (hoffentlich) ein Leben außerhalb des Blitzes habt. Viele Blitzliebhaber haben einen Job und eine Familie, und eine schnelle Partie auf dem Handy, während man auf den Pendlerzug wartet, ist die einzige Möglichkeit, das Verlangen nach einer Blitzpartie zu befriedigen. Die harte Realität ist jedoch, dass qualitativ hochwertiges Blitzschach eine qualitativ hochwertige Vorbereitung erfordert. Die meisten Elemente einer hochwertigen Vorbereitung sind selbstverständlich:

  • Eine "vernünftige" Internetverbindung.
  • Ein Trackpad oder eine Maus, die Mausbewegungen minimiert und die Geschwindigkeit maximiert. Persönlich habe ich noch nie eine Maus benutzt (sogar für Bullet). Wer eine Blitz-freundliche Maus erwerben möchte, kann sich an Hikaru's Ratschlag halten.
  • Ein Ort, der relativ frei von Ablenkung ist. Ich habe Blitz an allen erdenklichen Orten gespielt: Cafés, Hörsäle, Bibliotheken, Flughäfen, usw. Ich habe auch Blitz gespielt, während ich an Hausaufgaben saß, gegessen oder SMS geschrieben habe und sogar während ich telefonierte. Vertrau mir: Es funktioniert nie! Eine Blitz-Sucht ist eine Blitz-Sucht, aber es ist unmöglich, Qualitäts-Schach zu spielen, wenn die Leute, die neben euch sitzen, virtuelle Währungen diskutieren oder an einem Eis lecken.
  • Eine positive Einstellung. Die Realität des Lebens ist, dass die meisten von uns immer aus dem einen oder anderen Grund gestresst sind. Aber wenn man besonders nervös oder ängstlich sind, ist es normalerweise am besten, die Blitzsitzung für diesen Tag abzusagen. Wenn man von negativen Emotionen übermannt wird ist es wesentlich schwieriger, Qualitätsschach zu spielen und dem Drang, die Hardware aus dem Fenster zu werfen zu widerstehen, nachdem man ein paar Partien verloren hat.

Dies ist jetzt keine allumfassende Liste, aber zusammengenommen können diese Maßnahmen die Ergebnisse, besonders auf lange Sicht, erheblich beeinflussen. Wer immer noch skeptisch ist, sollte einen Blick auf die nächsten beiden Partien werfen.

Jetzt macht am besten eine kurze Pause und seht euch dann die nächste Partie an: 

Es ist vielleicht schwer vorstellbar, dass diese beiden Partien von derselben Person gespielt wurden, aber ich kann euch versichern, dass sie es waren. Der einzige Unterschied ist, dass die erste Partie (Parhami-Naroditsky) in einer lauten Lounge in meinem Studentenwohnheim gespielt wurde, wo das Internet alle paar Sekunden ausfiel und Gespräche aller Art um mich herum stattfanden.

Die zweite Partie wurde in absoluter Ruhe in einer Bibliothek auf einem großen und schnellen Desktop-Computer gespielt. Wenn ihr es euch zum Ziel macht, in einer Umgebung zu spielen, die Konzentration und harte Arbeit fördert, werden euch die Blitzgötter zur Seite stehen und euch mächtig glücklich machen!

Hikaru Nakamura

Hikaru Nakamura

Prinzip 2: Die 15-Sekunden Regel.

Ab einem gewissen Level läuft das Zeitmanagement auf die Frage hinaus, wie lange man über jeden Zug nachdenken darf. Es gibt offensichtlich keine richtige Antwort, aber es ist eine gute Idee, einige grobe Richtlinien zu beachten. Um eine Leitlinie zu formulieren, habe ich mich bemüht, eine wissenschaftlich rigorose, bahnbrechende Studie durchzuführen, die derzeit von vier führenden Informatik-Professoren geprüft wird. In dieser Studie wählte ich drei von Hikaru Nakamuras Blitzpartien auf Chess.com aus und notierte die Zeit, die er bei jedem Zug verbrauchte. Die Ergebnisse, auf ein Balkendiagramm übertragen, sind hier:

nullDie Widerlegung dieser Analyse könnte ein Buch füllen: Die Anzahl der Partien ist winzig, der ausgewählte Spieler (Nakamura) ist nicht repräsentativ für die allgemeine Blitzpopulation (eher genau das Gegenteil) und die Liste kann man endlos weiterführen. Trotzdem glaube ich fest daran, dass eine Analyse der Zeiteinteilung der besten Blitzspieler durch Hunderte von Partien eine ähnliche Verteilung ergeben wird.

Okay. Aber was sagt es uns? Die Anzahl der Züge, die innerhalb von 0-2 Sekunden gezogen wurden, ist nicht besonders überraschend, obwohl sie durch Anwendung von Prinzip 5 maximiert werden kann. Was aufschlussreicher ist, ist die Anzahl der Züge, für die Hikaru 10 oder mehr Sekunden brauchte: Das waren 3 in 3 Partien.

Hikaru ist kein Wahnsinniger, der jeden einzelnen Zug als Pre-Move zieht. Er nimmt sich für jeden Zug eine gewisse Zeit, verbraucht aber nur in den kritischten, entscheidenden Momenten mehr als 10 Sekunden für einen Zug.

Nakamura's Knockouts 18 Juli 2017 www.twitch.tv

Nun ist es nicht zu leugnen, dass Hikarus Geschwindigkeit von einem Normalsterblichen nur schwer zu erreichen ist, weshalb ich auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrung sowie meiner Beobachtungen die 15-Sekunden-Regel vorschlage: Im Allgemeinen sollte man nur 15 Sekunden oder mehr über einen Zug nachdenken, wenn man glaubt, dass die absolut kritische Stellung der Partie erreicht worden ist.

Dies ist aber keine feste Regel und ich erwarte keine Oohs und Aahs für diesen Satz. Gleichwohl ist es wichtig, eine konkrete Grenze zu ziehen, ab der man sich selbst zur Rechenschaft zieht. Wenn man eine Minute für drei Züge verbraucht hat, ohne ein konkretes Ergebnis vorweisen zu können, dann sollte man sich einen mentalen Anstoß geben, um schneller zu werden.


  

Prinzip 3: Langsamer werden, wenn man gewonnen oder verloren hat..

Der erste Teil dieses Prinzips ist unumstritten. Wenn man ein paar Züge vor dem Sieg steht, kann es verlockend sein, in der gewohnten Geschwindigkeit weiter zu spielen.. um dann den Sieg aus dem Fenster zu werfen, weil man die Dame einstellt oder in eine letzte Falle stolpert. Macht nicht diesen Fehler: Wenn ihr eine gewonnene Stellung und genügend Zeit habt, dann nehmt euch diese Zeit um nach Fallen, Einstellern oder - der ultimativen Quelle zerbrochener Tastaturen - zufälligen Patts zu suchen.

Der zweite Teil mag zunächst unlogisch erscheinen. Wenn man verloren ist, gilt die Volksweisheit, dass es einzige Hoffnung ist es, deinen Gegner in Zeitdruck zu bringen, indem man schneller spielt. Diese Denkweise ist nicht falsch, aber was ist, wenn man verloren ist und der Gegner eine Wagenladung voll Zeit übrig hat? Dies ist oft der Fall, wenn man zum Beispiel in der Eröffnung gestolpert ist. In diesem Fall wird das schnellere Spiel keinen Zeitdruck erzeugen, sondern die Niederlage nur beschleunigen.

In Situationen, in denen man objektiv verloren hat, besteht im Allgemeinen die einzige Hoffnung darin, starke Verteidigungszüge zu finden oder Fallen zu stellen, die tatsächlich eine Chance haben, den Gegner ins Stolpern zu bringen. Um heftigen Widerstand zu leisten, ist es oft klug, jegliche Hoffnungen auf einen Sieg auf Zeit aufzugeben, sich auf die Stellung zu konzentrieren.

Um dies in der Praxis zu sehen, werfen wir einen Blick auf eine Blitzpartie zwischen Le Quang Liem und Fabiano Caruana, die beim Sinquefield Cup 2017 (also am Brett und nicht Online) gespielt wurde. Eigentlich war es eine Schnellschach-Partie, aber in dem Segment, mit dem wir uns beschäftigen, hatten beide Spieler weniger als eine Minute Bedenkzeit übrig.

Es ist schwer zu leugnen, dass Le Quang in dieser Partie eine Menge Glück hatte. Aber gute Spieler haben immer Glück und indem sie sich zwingen, so gewissenhaft wie möglich nach defensiven Ressourcen zu suchen, gewinnen sie viele Punkte.

Prinzip 4: Optimierung der grundlegenden Schachmatt-Techniken.

Ich schwankte eine Weile, bevor ich beschloss, diesen Grundsatz zu berücksichtigen, entschied aber letztendlich, dass er zu wichtig ist (und zu leicht vergessen wird), um ihn wegzulassen. Der Punkt ist selbsterklärend: Es gibt viele Möglichkeiten, grundlegende Matts zu geben, und einige sind viel schneller (und sicherer) als andere. Wir alle haben die unaussprechliche Frustration erlebt, dass uns die Zeit ausgeht, bevor wir in der Lage sind, ein Schachmatt zu finden. Die Agonie wird noch intensiver, wenn der Gegner einen kleinen Bauern übrig hat. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Szenarien unvermeidlich, aber viele Spieler geben sich oft damit ab, auf Zeit zu verlieren, wenn nur wenige Sekunden übrig sind, anstatt mit einer Dame oder dem Turm Schachmatt zu setzen.

Und was genau sind diese schnellsten Methoden? Hier ist ein Beispiel. Wer Angst davor hat, mit einem Turm mattsetzen zu müssen, dem sei gesagt: Ich habe diese Methode erst kennengelernt, als ich Großmeister wurde.


 

Ich denke, ihr habt meinen Punkt verstanden. Tut euch den Gefallen und lernt diese Methoden und spielen Sie ein paar Übungspartien mit dem Computer (oder einem Freund), um eure physische Geschwindigkeit zu optimieren. Es ist vielleicht nicht die faszinierendste Aktivität aller Zeiten, aber ihr werdet euch später selbst dafür danken.

 

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Prinzip 5: Antizipation ist wichtiger als Pre-Moves.

Der Tag, an dem die Pre-Moves erfunden wurden, war ein Wendepunkt in der Geschichte des Internetschachs. Während es zwar wichtig ist, die Pre-Moves zu beherrschen - ein Thema, dem ich einen ganzen Artikel widme - hat mir eine gute alte Antizipation zweifellos mehr Zeit gerettet als jeder Pre-Move, den ich je gemacht habe.

Antizipation ist ein entscheidender Begriff im klassischen Schach. Die Züge des Gegners vorherzusagen und seine Denkmuster zu verstehen sind ein unverzichtbarer Teil der Berechnung. Der wahre Zweck der Berechnung im klassischen Schach ist es, die Genauigkeit der eigenen Züge zu gewährleisten und nicht bei jedem Zug die Gedanken des Gegners zu lesen. Wenn ein Gegner einen unerwarteten Zug macht, kannst man ein paar Sekunden brauchen, um sich zu erholen und seinen Verstand zu sammeln.

Im Blitz ist die Situation umgekehrt. Die Folgen, wenn man nur zwei Kandidatenzüge anstatt von fünf berechnet sind weniger gravierend, aber die Folgen eines unerwarteten Zuges oder einer überraschenden Kombination können fatal sein.

Aber kommen wir zum Fleisch: Ihr denkt jetzt vielleicht, "ist nicht die Antizipation gerade eines dieser Dinge, die völlig von der allgemeinen Schachstärke abhängt?" Ja und nein. Großmeister können die Entscheidungen ihrer Gegner natürlich besser vorhersagen und werden in kürzerer Zeit eine passende Antwort finden.

Wie bei der Zeitverwaltung im Allgemeinen gibt es hier aber eine Vielzahl spezifischer und anwendbarer mentaler (und Maus-) Techniken, die jeder mit großer Wirkung implementieren kann. Unabhängig davon, ob man eine Stärke von 1400, 2400 oder 3400 hat. Statt die Punkte dafür einfach aufzuzählen, sehen wir uns diese Technik aber lieber anhand einer meiner kürzlich gespielten Partien an:

Jetzt geht es darum, die Partie zu gewinnen. Wer sich in meine Lage versetzen will, sollte es in 30 Sekunden schaffen.

Das ist alles, was ich zur Zeiteinteilung zu sagen habe ... zumindest vorerst. Ich hoffe, dass ihr meine Ratschläge in euren Partien umsetzen könnt.

Am wichtigsten ist es, eine einheitliche Philosophie des Zeitmanagements zu entwickeln und diese zu 100 Prozent zu praktizieren. Ob diese fünf Prinzipien die Grundlage bilden oder nicht, entscheidet dann jeder selbst. Und jetzt viel Spaß beim Blitzen!

 

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