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Die Geheimnisse hinter den Zügen der Großmeister | Tata Steel Edition

Die Geheimnisse hinter den Zügen der Großmeister | Tata Steel Edition

Gserper
| 35 | Strategie

Computer haben unsere Wahrnehmung des Schachspiels dramatisch verändert. Die größte Veränderung ist wahrscheinlich der verlorene Sinn für ein großes Mysterium. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen Schachfans auf der ganzen Welt jahrelang komplizierte Stellungen aus Weltmeisterschaftspartien analysiert haben. Heute braucht man nur noch eine Engine über Nacht laufen zu lassen und am nächsten Morgen weiß man fast alles, was man über die Stellung wissen muss.

Weltmeister Mikhail Botvinnik hat einen Monat lang ein Damenendspiel analysiert? Das meinst Du nicht ernst, oder? Tablebases zeigen die Auswertung doch sofort! Dadurch geht aber sehr häufig die Hauptanziehungskraft des Schachspiels verloren: die menschliche Komponente. Dieses Element bekamen wir beim Tata Steel Turnier 2022 zu sehen.

 

So könnt Ihr das Turnier live verfolgen:
Chess.com überträgt das Turnier live und in voller Länge, mit Kommentaren von IM Steve Berger und IM Elisabeth Pähtz auf Twitch, YouTube, ChessTV und Chess.com/Events.
Alle Partien findet Ihr auf unserer Event-Seite: Masters | Challenger
Die englischsprachige Übertragung findet Ihr auf dem YouTube Kanal Chess.com Live
2022 Tata Steel Chess.com

Schach ist in erster Linie ein intellektueller Wettstreit zwischen zwei Menschen und es dreht sich alles um die Entscheidungen, die sie treffen. Es ist traurig, während eines großen Turniers in einen Chat zu sehen und dort Kommentare wie diesen zu finden: "Ist das überhaupt ein echter Großmeister? Wie konnte er nur übersehen, dass er nach 32.Le6 +3,7 hat?" Ich bin mir aber sicher, dass Ihr keine solchen Kommentare schreibt!

Anstatt also auf die Bewertung der Engine zu sehen, versucht doch herauszufinden, warum ein sehr starker Spieler diesen Zug gespielt hat, obwohl er schlechter als der Engine-Zug ist. Ich kann Euch versichern, dass Sie auf diese Weise sehr viel mehr über Schach lernen werdet. Außerdem ist es sehr unterhaltsam, weil man sich wie ein Sherlock Holmes fühlt, der herauszufinden versucht, warum ein Zug gespielt wurde.

Heute teile ich mit Euch einige meiner Erkenntnisse aus den Partien, die bis jetzt beim Tata Steel-Turnier 2022 gespielt wurden. Beginnen wir mit einer sehr unterhaltsamen Partie. Könnt Ihr den nächsten Zug von Magnus Carlsen finden?

Wenn das für Dich eine einfache Frage war, kannst Du Dir auf die Schulter klopfen: Du hast ein gutes Verständnis für positionelles Schach. Dies ist ein typischer Zug, den Weiß in allen ähnlichen Stellungen spielt, wenn er den schwarzen Läufer auf e4 aus dem Zentrum vertreiben will, ohne ihn gegen seinen eigenen Läufer auf g2 abzutauschen. Es gibt Dutzende von Partien, in denen diese Idee gespielt wurde. Zum Beispiel diese:

Das war also kein großes Geheimnis. Carlsen spielte einen Standardzug für solche Stellungen, der ihm das Läuferpaar eingebracht hat. Aber seht Euch das nächste Diagramm an. Ich wette, dass ihr die folgende bemerkenswerte Zugfolge von Jorden van Foreest nicht finden könnt!

Nach diesem brillanten Opfer erhielt Schwarz praktisch aus dem Nichts eine fantastische Angriffsstellung! Als ich diese Züge gesehen hatte, war meine erste Reaktion natürlich "wow!" Und dann stellte ich mir eine logische Frage: Wie hat der junge holländische Großmeister diese großartige Idee gefunden (also abgesehen von seinem großen Talent natürlich)? Ich glaube, ich habe die Antwort gefunden! Seht Euch einfach die folgende schöne Partie an, die van Foreest vor ein paar Monaten gespielt hat:

Diese bemerkenswerte Partie kann einem aus verschiedenen Gründen gefallen: Ein atemberaubendes Bauernopfer im achten Zug, eine tolles Qualitätsopfer im 25. Zug, usw. Aber der Schlüsselmoment der Partie wurde von den meisten übersehen. Wer findet heraus, wie Weiß in der folgenden Stellung einen enormen Vorteil erlangen hätte können?

Ich habe keinen Zweifel, dass van Foreest von dieser unerwarteten Idee absolut verblüfft war, als er die Partie mit einer Engine analysierte und sich wahrscheinlich entschied, sie zu verwenden, wenn sich eine Gelegenheit dafür ergeben würde. Und wenn man ein Hammer ist, sieht alles wie ein Nagel aus, oder? Und so wurde der arme Carlsen angegriffen! König Magnus muss Euch aber nicht Leid tun. Er hatte diese Art von Bauernstruktur schon in früheren Partien und auch da haben seine Gegner bereits versucht, ihn anzugreifen. Hier ist nur ein Beispiel:

Kommen wir aber zurück zu unserer Hauptpartie. Wie würdet Ihr in der folgenden Stellung weiterspielen?

Aber warum hat der holländische Großmeister diese Variante übersehen? Ich schätze, er liest keine Chess.com Artikel! Erst vor drei Wochen haben wir uns genau mit dieser Art von Abtäuschen beschäftigt und festgestellt, dass sie selbst Weltmeister manchmal verwirren können.

Der letzte wirklich interessante Moment dieser Partie ereignete sich dann im 38. Zug, als beide Spieler einen erzwungenen Gewinn für Weiß übersahen. Wer kann ihn finden?

Ihr solltet jetzt aber nicht voreilig zwei Super-GMs dafür kritisieren, dass sie diese Variante nicht gesehen haben. Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon, was hier schiefgelaufen ist. Beide Spieler haben einfach den Zwischenzug 41.Dg4!! nicht gesehen. Es ist ein sehr lehrreicher Moment: Zwischenzüge sind sehr leicht zu übersehen und können häufig, wie in diesem Fall, eine Partie entscheiden. Wenn Ihr mit diesem Konzept nicht sehr vertraut seid, solltet Ihr unbedingt Taktikaufgaben zum Thema Zwischenzug machen. Das wir Euer Schach ungemein verbessern!

In der Zwischenzeit haben sich unsere beiden Hauptakteure nach vielen Abenteuern auf ein Remis geeinigt:

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