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Das umstrittenste Ungleichgewicht

Das umstrittenste Ungleichgewicht

Gserper
| 94 | Strategie

Obwohl die jüngste FIDE Schachweltmeisterschaft wegen des enttäuschenden Endes eher eine Enttäuschung war, brachte sie dennoch ein Kronjuwel hervor: Die sechste Partie.

Die längste Partie in der Geschichte der Weltmeisterschaften war so reichhaltig, dass man ein ganzes Buch über diese Partie schreiben könnte! Heute analysieren wir aber nur das Fragment, bei dem eine Dame gegen zwei Türme eingetauscht wurde.

Es gibt Tausende von Büchern, Artikeln und Videos, die sich mit Stellungen beschäftigen, in denen ein Läufer gegen einen Springer oder ein Turm gegen eine Leichtfigur und ein oder zwei Mehrbauern kämpft. Aber Stellungen, in denen eine Dame gegen zwei Türme kämpft, sind viel weniger erforscht. Als Ergebnis haben wir das umstrittenste Ungleichgewicht, bei dem sich selbst Top-Spieler nicht einig sind.

Wir haben dieses Ungleichgewicht schon vor etwa 2 Jahren analysiert, aber in diesem Artikel haben wir uns hauptsächlich Stellungen angesehen, in denen entweder die Dame oder die beiden Türme die Stellung dominiert haben. Aber was ist, wenn die Bewertung der Stellung nicht so offensichtlich ist? Ein gutes Beispiel dafür ist die erste Partie einer anderen Weltmeisterschaft.

Wie sollten wir die Stellung bewerten, die nach dem Zug 22...Tae8 entstehen hätte können? Selbst die Top-Spieler kamen zu unterschiedlichen Schlüssen. In seinen Kommentaren für die sowjetische Tageszeitung Izvestia empfahl Jose Raul Capablanca diesen Abtausch für Schwarz und hielt ihn für besser als Alexander Aljechin's Zug 22...Txd4.

Die berühmten sowjetischen Meister, Großmeister Grigory Levenfish und der Internationale Meister Peter Romanovsky waren ihn Ihrem Buch Alekhine-Capablanca aber ganz anderer Meinung und schrieben: "Natürlich nicht wie von Capablanca in der Izvestia empfohlen 22...Tae8, denn danach führt der einfache Zug 23.Dxe8 zu einem Remis."

Die Meinung von Aljechin war die interessanteste. In seinem Buch Auf dem Weg zur Weltmeisterschaft schrieb er: "22...Tae8, wie von Capablanca kurz nach der Partie empfohlen, war nicht besser, da Weiß nach 23.Dxe8 mit seinen beiden Türmen einen starken Widerstand leisten hätte können."

Capablanca Alekhine
Aljechin (links) und Capablanca (rechts). Foto: Alamy.

Allerdings schreibt Aljechin dann in seinem Buch Meine besten Partien: "Einfach und stark wäre stattdessen 22...Tae8 gewesen, denn nach dem Abtausch 23.Dxe8 Txe8 24.Txe8 Kh7 sollte Schwarz aufgrund seines erheblichen positionellen Vorteils kaum Schwierigkeiten haben, den Sieg zu erzwingen."

Jetzt können Ihr sehen, wie umstritten ein solches Ungleichgewicht sein kann. Sogar Weltmeister Aljechin scheint dabei etwas verwirrt zu sein!

Fast 60 Jahre nach der Partie veröffentlichte Vladimir Goldin aus Moskau im Magazin Schach n der UdSSR eine detaillierte Analyse der Partie und behauptete, Levenfish und Romanovsky hätten Recht und der Tausch würde zu einem Remis führen und die Diskussion begann erneut. Der berühmte sowjetische Trainer und Schachanalytiker Mark Dvoretsky widersprach und veröffentlichte seine eigene Analyse, in der er bewies, dass Capablanca Recht hatte. Da moderne Schachengines Dvoretsky völlig Recht geben, möchte ich Euch seine wichtigsten Ideen zeigen:


Kommen wir also zur sechsten Partie der FIDE Weltmeisterschaft 2021 zurück. Hier ist die Stellung, unmittelbar nachdem Magnus Carlsen seine Dame gegen die beiden Türme von Ian Nepomniachtchi getauscht hat.

Obwohl die Engine die Stellung vor und nach dem Tausch mit "0,00" bewertet, kann diese Bewertung für weniger erfahrene Spieler sehr verwirrend sein. Warum zeigt die Engine denn nach 27.Txc8 "0.00" an, obwohl doch Weiß materiell gesehen einen Vorteil von +1 hat? Was ist da los?

Des Rätsels Lösung ist, dass man solche Abtäusche niemals rein materiell beurteilen sollte, da sie sonst immer zu Gunsten der Türme ausfallen würden. Zwei Türme sind ja 10 Punkte wert und eine Dame nur neun Punkte. Im  (da zwei Türme 10 Punkte wert sind, ein Punkt mehr als eine Dame, also neun Punkte). Im oben erwähnten Artikel haben wir bereits die Kriterien besprochen, anhand derer man einen solchen Abtausch bewerten sollte. 

Komisch ist, dass Sergei Shipov in seiner Analyse der Partie schreibt: "Mal sehen, warum Ian Nepomniachtchi zwei Türme für eine erbärmliche Dame aufgibt." Wie wir gleich sehen werden, hatten in der daraus resultierenden Stellung beide Spieler ihre Chancen. Zuerst war es Carlsen, der einen Fehler seines Gegners nicht ausgenutzt hat:

Diese Computervarianten sind für einen Menschen sehr schwer zu finden, aber trotzdem war der Zug ein großer Fehler von Carlsen. Danach war Nepo an der Reihe, sich zu irren. Wer findet den besten Zug für Schwarz?

Tja, da muss man kein Super-GM sein, um zu sehen, dass Schwarz aufgrund der Fesselung einfach einen Bauern einsammeln kann und dann wird sein Freibauer auf der a-Linie sehr gefährlich. In diesem Fall könnte Schwarz ohne Risiko auf Gewinn spielen! (Die gleiche Idee hätte übrigens auch im nächsten Zug noch funktioniert!)

Im 40. Zug war es dann wieder der Weltmeister, der einen Sieg verpasste. Hier muss man allerdings schon ein sehr starker Schachspieler sein, um den Gewinn zu finden! Versuchen kann man es aber natürlich jeder:

Nach all diesen verpassten Chancen erreichten die Spieler das berühmte Marathon-Endspiel, das laut Engines zwar Remis, aber aus menschlicher Sicht kaum zu halten war. Wie gesagt, der Rest ist Geschichte...

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