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Der neue König der Meme Eröffnungen

Der neue König der Meme Eröffnungen

Gserper
| 78 | Andere

Als ich 12 Jahre alt war, mussten wir in der Schule einen Aufsatz über einen persönlichen Helden schreiben. Ich hatte gerade den unsterblichen Klassiker "Zwölf Stühle" zu Ende gelesen und das Buch hatte eine tiefgreifende Wirkung auf mich. Es war schwer, sich nicht in den Hauptprotagonisten des Buches, den trickreichen und smarten Ganoven Ostap Bender, zu verlieben. Der charismatische Mann mit einem feinen Sinn für Humor war das genaue Gegenteil der traditionellen Charaktere aus Büchern, die wir in der Schule lasen. Also beschloss ich, meinen Aufsatz über Ostap Bender zu schreiben.

Ich muss zugeben, dass es eine fragwürdige Entscheidung war, denn trotz seines ganzen Charismas war Ostap Bender ein Gauner. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich erst 12 Jahre alt und von Mikhail Tal's Lieblingsbuch völlig überwältigt war. Darüber hinaus errichtete FIDE-Präsident Kirsan Ilyumzhinov etwa zwanzig Jahre später in seiner Chess City eine Statue von Ostap Bender.

Mikhail Tal in 1964
Die Schachlegende Mikhail Tal. Foto: Dutch National Archive, CC.

Mein Aufsatz war fast zur Hälfte fertig, als unsere Lehrerin beschloss, einen Blick darauf zu werfen. Ich zeigte ihr stolz meine Arbeit, aber ihre Reaktion war ziemlich unerwartet. Sie wurde wütend – sehr wütend! Das lag aber nicht daran, dass Ostap Bender nicht das beste Vorbild war. Sie war aus einem anderen Grund verärgert.

"Was hast Du Dir nur dabei gedacht?", schrie sie mich an. "Unser Land bereitet sich darauf vor, den Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin zu feiern, also solltest Du über Lenin schreiben!". Dank meiner Lehrerin habe ich eine wertvolle Lektion über Doppelzüngigkeit erhalten, die mir in Zukunft sehr geholfen hat. Natürlich habe ich dann einen Aufsatz über Lenin geschrieben und eine sehr gute Note bekommen!

Wenn ich über meine Lieblingsspieler spreche, habe ich meine Vorlieben nie verheimlicht. Es sind hauptsächlich Weltmeister (so ziemlich alle) und einige außergewöhnliche Großmeister, die nie den höchsten Titel gewonnen haben (wie zum Beispiel Viktor Korchnoi). Und bei manchen meine Lieblingsspieler, wie zum Beispiel Hikaru Nakamura, hoffe ich, dass sie den Titel einfach noch nicht gewonnen haben. Und dann gibt es noch Schachspieler wie IM Rashid Nezhmetdinov, die aufgrund ihres Sinns für Kunst zu meinen Helden wurden.

Hikaru Nakamura at Norway Chess 2023
Hikaru Nakamura. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Jetzt habe ich einen neuen Lieblingsspieler, der in eine Kategorie fällt, die ich nicht wirklich definieren kann. Er ist noch jung und vielleicht wird er ja eines Tages Weltmeister. Er schätzt definitiv die Kunst im Schach, aber er hat auch etwas Neues. Etwas, das mit der modernen Meme-Kultur zu tun hat.

Also will ich Euch jetzt ohne weitere Umschweife Großmeister Jergus Pechac vorstellen. Ihr werdet Euch vielleicht noch an diese Partie erinnern, die ich Euch in vor etwa 2 Jahren vorgestellt habe:

In diesem Artikel schrieb ich: 

Stellt Euch vor, Ihr spielt eine sehr wichtige Partie gegen einen der weltbesten Spieler, der etwa 300 Punkte höher bewertet ist. Aufgrund eines offensichtlichen Maus-Slips stellt er seine Dame ein. Ihr könntet die Dame schlagen, würdet die Partie gewinnen und in der Qualifikation zum FIDE Weltcup die nächste Runde erreichen. Was würde Ihr tun?

Der junge slowakische Großmeister wollte die Partie aber nicht auf diese Weise nicht gewinnen und bot deshalb ein Remis an! Daraufhin beschloss die Schachgöttin Caissa Pechac zu belohnen und sorgte dafür, dass er das Armageddon gewann und in die nächste Runde einzog. Obwohl es mir für meinen alten Freund Gelfand leid tut, bin ich äußerst froh, dass Ritterlichkeit im Schach noch lebt und auch belohnt wird!

Pechac
Jergus Pechac. Foto: European Chess Union.

Wie Ihr sehen könnt, hat Pechac im Gegensatz zu meinem Kindheitshelden Ostap Bender einen sehr hohen moralischen Standard! Aber was ist mit seinem Schach und der Meme-Kultur? Lasst es mich erklären. Möglicherweise habt Ihr ja schon dieses Video gesehen, das vor ein paar Jahren ziemlich beliebt war.

Ein gut gekleideter junger Mann fühlt sich bei einem Konzert sichtlich unwohl. Weil er ständig auf die Uhr schaut, wartet er wahrscheinlich auf sein Date, das aber nicht erscheint. Schließlich gibt er die Hoffnung auf und denkt: "Ah, sch... drauf!" und zeigt sein wahres Inneres.

Als ich mir Pechacs Partien ansah, fielen mir einige Ähnlichkeiten mit dem Video auf. In seinen letzten Turnieren spielte Pechac alle möglichen soliden Eröffnungen wie das  Damengambit oder die langweilige Berliner Verteidigung.

Und irgendwann dachte Jergus wahrscheinlich genau wie dieser tanzende Mann: "Jetzt reichts", und fing zu tanzen an!

Zuerst spielte er Vladimir Kramnik's Schachvariante und verzichtete auf die Rochade:

Dann sagte er zu allen Leuten, die denken, sie seien mutig, wenn sie in einer bedeutungslosen Blitzpartie ein Bongcloud spielen, "halt mal mein Bier" und entschied sich in offiziellen Turnierpartie gegen Großmeister mit einer Elo von über 2600 für Vorstöße mit seinen Randbauern.

Im Gegensatz zu anderen Meme-Eröffnungen hat Pechacs Vorstoß seines a-Bauern übrigens einen Sinn. Es braucht nur einen natürlich erscheinenden Zug, damit Weiß seinen b5-Läufer verliert!

Ok, selbst nachdem ich den Läufer eingestellt habe, würde ich immer noch die Stellung von Weiß bevorzugen. Dennoch ist es eine sehr unerwartete Überraschung in der klassischen Spanischen Eröffnung! Übrigens habe ich hier für alle, die gerne Eröffnungsfallen aufstellen, etwas sehr Ähnliches:

Schließlich setzte Pechac seinem Meme-Modus die Krone auf und eröffnete gegen den sehr starken rumänischen Großmeister und bekannten Eröffnungsexperten Alexander Motylev mit 1.Sh3:

Jetzt habe ich wirklich alles gesehen! Ein Hoch auf meinen neuen Schachhelden Jergus Pechac!

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