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Darf man beim Schach seinen Augen trauen?

Darf man beim Schach seinen Augen trauen?

Gserper
| 72 | Eröffnungstheorie

In einer berühmten Komödie erzählt Richard Pryor von seiner Frau, die ihn beim Fremdgehen erwischt hat. Da seine Frau den Raum im ungünstigsten Moment betreten hatte, war es sinnlos, das Fremdgehen zu leugnen, aber dennoch versuchte er sein Bestes.

Als letztes Argument fragt er: "Wem glaubst Du mehr? Mir oder Deinen Augen?"

Richard Pryor
Richard Pryor. Foto von Alan Light / Wikipedia.

Die war jetzt natürlich nur eine Komödie, aber ich habe schon viele Schachspieler gesehen, die nur auf ihre eigenen Augen vertrauen!

Vor einiger Zeit kam einer meiner Schüler zu mir und sagte, dass er seine Eröffnung gegen 1.e4 ändern würde:

—Was willst Du jetzt spielen?

—1.e4 f5!

—Huh? (hier war ich sprachlos!)

—Ja, das ist eine großartige Eröffnung. Ich wundere mich, dass sie niemand in meinem Club spielt. Viele Großmeister spielen diese Eröffnung und die Ergebnisse sind fantastisch!

—Von was sprichst Du eigentlich? 1.e4 f5? Welche Großmeister sollen das sein und welche fantastischen Ergebnisse? 

—Ich habe mir die Datenbanken angesehen und die Ergebnisse sind der Wahnsinn! Schau!

An diesem Punkt öffneten wir den Opening Explorer auf Chess.com und gaben die Züge 1.e4 f5 ein.

Das Bild war surreal. Der Opening Explorer zeigte, dass der beliebteste Zug für Weiß 2.d4 ist und 842 Mal gespielt wurde. Weiß gewann 38% aller Partien nach diesem Zug und Schwarz 41%! Der zweitbeliebteste Zug für Weiß ist 2.Sf3 und das Ergebnis ist nur unwesentlich besser (41% Siege für Weiß und 35% Siege für Schwarz).

Ich fragte meinen Schüler, was er auf den für mich natürlichsten Zug 2.exf5 machen würde und er antwortete, dass dies kein beliebter Zug wäre, weil er in über 1.200 Partien nur 4 mal gespielt worden sei und er sich deshalb nicht darauf vorbereiten müsse!

Ich glaube, Ihr könnt Euch jetzt schon denken, was hier schiefgelaufen ist. Die Partien in der Datenbank begannen alle mit einer anderen Zugreihenfolge. Zum Beispiel mit 1.d4 f5 2.e4 oder 1.Sf3 f5 2.e4, usw., aber für die Datenbank spielt die Zugreihenfolge keine Rolle, solange danach die gleiche Stellung aufs Brett kommt.

Wenn also 2 Anfänger diese Partie spielen würden...

...würden wir diese Partie unter allen Großmeister-Sweschnikov-Partien finden, denn dem Opening Explorer ist es egal, wie man zu einer Stellung kommt—für ihn zählt nur die Stellung, nach der man sucht.

Der Opening Explorer ist ein tolles Hilfsmittel und viele meiner Studenten verwenden ihn fast täglich, aber wie bei allen anderen Programmen auch, sollte man es verstehen. Schließlich kann man sich ja sogar mit einer Bohrmaschine umbringen, wenn man sie falsch, oder in einer Badewanne benutzt.

electric drill

Ich lobte meinen Schüler zuerst für seinen Fleiß und seine Eröffnungsrecherchen, aber wies ihn dann darauf hin, dass er, unabhängig davon, was ihm der Opening Explorer zeigt, auch seinen gesunden Menschenverstand benutzen sollte.

Mit einem anderen Schüler hatte ich ein ähnlich haarsträubendes Erlebnis. Er sagte mir, dass er einen Aufbau gefunden hätte, den Schwarz gegen fast jeden Zug von Weiß spielen könnte:

Ich dachte zuerst, dass er einen Witz gemacht hatte, denn dieser Aufbau sieht wie der Unsinn aus, den Magnus Carlsen in vielen Bullet-Partien spielt:


Mein Schüler versicherte mir aber, dass er keinen Witz gemacht hat und dass es sogar ein Buch über diese "Eröffnung" gibt.

Unsere Unterhaltung ging dann so weiter:

—Und wenn Du ein Buch findest, in dem steht, dass Spinnen gesund sind, würdest Du dann Spinnen essen?

—Eww...

—Genau! Genau das sollte Deine Antwort auf solche Empfehlungen sein.

Ich erklärte ihm, dass es grundsätzlich nicht falsch ist, bei Eröffnungen oder im Schach im Allgemeinen zu experimentieren. Wenn er aus irgendeinem Grund wirklich denkt, dass es eine gute Idee ist eine "Eröffnung" zu spielen, die praktisch alle Schachregeln verletzt, dann sollte er es auf jeden Fall versuchen. Aber etwas zu spielen, nur weil es irgendjemand empfiehlt und der gesunde Menschenverstand "Eww" sagt, dann ist das ziemlich dumm.

Die wirklich großen Schachspieler waren schon immer unabhängige Denker und vertrauen nur "ihren Augen". Ein gutes Beispiel dafür ist der folgende Kommentar von Aron Nimzowitsch in seinem Buch
My System (Mein System):

Hier ist, was er über den Zug 6.Se3 schreibt:

Auch wenn die gesamte Menschheit hier 6.Sc3 spielen würde halte ich meinen Zug 6.Se3 für den richtigen, weil er in mein System passt.

Die Lektion ist recht einfach. Wenn Du ein starker Schachspieler werden willst, dann vertraue auf Deine eigenen Logik und spiele die Züge, die Du selbst für die richtigen hältst. Ja, oft werdet Ihr die falschen Entscheidungen treffen und Ihr werdet feststellen, dass Euch Eure Augen angelogen haben, aber so lernen wir.

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