Bist Du ein Schach-Desperado?
Ich liebe es, die Mitgliederkommentare zu meinen Artikeln zu lesen! Es ist eine Freude zu sehen, wie schlau und intelligent unsere Schachgemeinschaft ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen Internetforen sind die Mitglieder auf Chess.com höflich und hilfsbereit. Seht Euch zum Beispiel die Kommentare zu diesem Artikel an. Dort äußerte ich meine Verwunderung, dass ein sehr starker Spieler und einer der besten Eröffnungsexperten seiner Zeit, GM Chigorin, einen sehr schlechten Zug gespielt hat: 2 ... f6.
Die Leser schlugen drei mögliche Gründe vor, warum er es getan hat:
1. Die Partie war arrangiert.
Ich erkenne keinen Sinn darin, warum die Partie abgesprochen hätte sein sollen. Ja, Fischer glaubte, dass zahlreiche Weltmeisterschaftspartien im Voraus arrangiert wurden, aber wie ich schon in diesem Artikel erklärte, glaube ich nicht an seine Verschwörungstheorien.
2. Beide Spieler waren betrunken.
Auch über diesen Punkt habe ich schon in einem älteren Artikel geschrieben. Ja, das könnte wirklich zu Chigorin passen, besonders, weil dies laut Kasparovs Buch My Great Predecessors in dieser Partie der Fall war:
Trotzdem glaube ich aber, dass Chess.com Mitglied Ochen_Zlaya mit seiner These der Wahrheit ziemlich nahe kommen könnte:
3. Es war eine Wette!
Laut Ochen_Zlaya hatte Chigorin irgendwann einmal gesagt, dass Züge wie 2...f6 spielbar wären und so lief bei dieser Partie vielleicht eine Wette. Das würde wirklich zu Chigorin passen, denn in einer Partie gegen Steinitz lief wirklich einmal eine Wette über eine bestimmte Stellung im Evans Gambit!
Während dies jetzt eine Erklärung sein könnte, warum Chigorin diese schlechte Eröffnung in einer Partie gespielt hat, ist es mir aber weiterhin ein Rätsel, warum manche Spieler diese miserable Eröffnung regelmäßig spielen.
Ich spreche hier nicht von absoluten Anfängern, die die offensichtlichen Nachteile dieses Zuges einfach noch nicht erkennen können. Ich spreche über Spieler mit einer DWZ von über 1200, die sich für diesen Zug entscheiden!
Nehmen wir zum Beispiel Sam Sloan. Er ist ein sehr erfahrener Schachspieler und im Vorstand des amerikanischen Schachverbandes und hatte zu seiner Glanzzeit eine ELO von über 2100 erreicht! Natürlich kann er nur selbst seine Beweggründe für diese zweifelhafte Eröffnung erklären, aber man muss ihm auch zugestehen, dass er seine Lieblingsöffnung auch gegen sehr starke Großmeister spielte:
Diese beiden Partien zeigen übrigens auch, dass man auf 2...f6? sowohl das Springeropfer 3.Sxe5! und den positionellen Zug 3.d4 spielen kann.
Nachdem ich mir tonnenweise Partien mit der Damiano Verteidigung angesehen habe, glaube ich nun die 3 Hauptgründe erkannt zu haben, warum manche Menschen diese Eröffnung spielen:
1. Ab und zu gewinnt man eine Partie damit—und dann ist dieser Sieg natürlich ein besonderer Hingucker!
Hier ist eine Gewinnvariante, die Chigorin in seiner Partie übersehen hatte:
Das ist aber natürlich eine absolut tierische Kombination!
Sam Sloan hat übrigens auch einen Sieg erzielt, auf den er Stolz sein kann:
Wenn wir einen Blick auf dieses Diagramm werfen dann frage ich mich, warum wir eigentlich Schach960 brauchen, wenn Schwarz einen Zug wie 2...f6 spielen kann!
2. Wenn Du eine Partie gewinnst, dann hat Du nicht nur eine Partie gewonnen, sondern Du hast sie mit 2...f6 gewonnen!
Wenn Ihr nicht versteht was ich meine, dann seht Euch dieses Beispiel an:
Versteht Ihr es jetzt? Dieser Typ hat nicht nur gegen Bobby Fischer ein Remis geschafft! Er hat es geschafft, obwohl er 2...f6 gespielt hat!
3. Man fühlt sich wie ein Desperado!
Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum manche Menschen 2...f6 oder ähnliche Schrotteröffnungen spielen.
Das hat einen psychologischen Hintergrund. Seit unserer Kindheit hören wir "Mach dies nicht - Mach das nicht" und je älter wir werden, desto länger wird diese Verbotsliste. Sich einem Schachbuch, das sagt, dass man in einer Eröffnung diesen oder jenen Zug nicht spielen darf, zu widersetzen, kann einfach der Wunsch nach Freiheit sein.
Wenn ein Schachspieler jetzt 2...f6 spielt, obwohl im jeder sagt, dass er diesen Zug nicht spielen soll, dann fühlt er sich wie ein Desperado.
Für mich ist das die wahre Schönheit des Schachs: Es gibt keine Limits. Auf dem Schachbrett kannst Du genau der sein, der Du sein möchtest!