Bedeutende Momente der Schachgeschichte: Bobby Fischers Waterloo
Das Schicksal drängt zu den Gewaltigen und Gewalttätigen.
So beginnt Stefan Zweigs berühmtes Buch Die Weltminute von Waterloo. Dieser Kurzroman beschreibt den entscheidenden Moment der historischen Schlacht von Waterloo, aber der Schachfreak in mir erkennt darin eine unheimliche Ähnlichkeit mit der historischen Schlacht auf dem Schachbrett zwischen Bobby Fischer und Bent Larsen. Es war eine der letzten Niederlagen von Fischer vor seinem rasanten Aufstieg zum Schachgipfel.
So beschreibt Zweig die Schlacht von Waterloo:
Von elf bis ein Uhr stürmen die französischen Regimenter die Höhen, nehmen Dörfer und Stellungen, werden wieder verjagt, stürmen wieder empor.
Und so sieht das für mich auf dem Schachbrett aus:
Mit seinem letzten Zug stellte Schwarz die Drohung 14...b4 auf, wodurch der den Springer auf c3 vertreiben und den Bauern auf e4 gewinnen würde. Stellt Euch vor, dass die eine Partie ist, die Ihr bei einem Turnier spielt.
Was würdet Ihr mit Weiß auf diese Drohung reagieren?
Bobby Fischer via Wikipedia.
In der Zwischenzeit werfen wir einen weiteren Blick auf die Schlacht von Waterloo:
Beide Heere sind ermüdet, beide Feldherren beunruhigt. Beide wissen, dass dem der Sieg gehört, der zuerst Verstärkung empfängt, Wellington von Blücher, Napoleon von Grouchy. Immer wieder greift Napoleon nervös zum Teleskop, immer neue Ordonnanzen jagt er hinüber; kommt sein Marschall rechtzeitig heran, so leuchtet über Frankreich noch einmal die Sonne von Austerlitz.
Nun, da Ihr wisst, dass beide Kommandeure auf Verstärkung warten, um den Feind zuerst angreifen zu können, ist es ziemlich offensichtlich, was Weiß in Fischers Stellung spielen sollte:
Ist das auch in Waterloo passiert? Nein!
Könnte Grouchy jetzt Mut fassen, kühn sein, ungehorsam der Ordre aus Glauben an sich und das sichtliche Zeichen, so wäre Frankreich gerettet. Aber der subalterne Mensch gehorcht immer dem Vorgeschriebenen und nie dem Anruf des Schicksals. So winkt Grouchy energisch ab. Nein, das wäre unverantwortlich; ein so kleines Korps noch einmal zu teilen.
Genau wie Grouchy dachte Fischer, dass es unverantwortlich wäre, den Zentrumsbauer aufzugeben uns spielte statt14. h5! den passiven Zug: 14. f3?
Garry Kasparov schreibt in seinem Buch My Great Predecessors über diese Stellung: "Für Fischer war diese Stellung neu und, was noch wichtiger ist, zu zerrissen, zu unklar. Er mochte keine zerrissenen Stellungen und deshalb verteidigte er einfach den Bauern. Von diesem Moment an entwickelt sich der Angriff von Schwarz jedoch schneller als der seines Gegners."
Kasparov geht aber noch weiter und behauptet: "Das Paradoxe ist, dass heutzutage jeder Vereinsspieler 14. h5! spielen würde."
Ich finde dieses Urteil zu hart und brauche deshalb Eure Hilfe. Am Anfang des Artikels habe ich gefragt, was Ihr spielen würdet, wenn Ihr diese Stellung in einer Turnierpartie auf dem Brett haben würdet. Würdet Ihr wirklich alle 14. h5 spielen oder hätten einige von Euch den e4-Bauern mit f3 gedeckt, so wie es Fischer getan hat?
Ich denke, es ist zu einfach, die Protagonisten nachträglich zu kritisieren. Stellt Euch für eine Sekunde vor, was im entscheidenden Moment der Schlacht von Waterloo in Grouchys Kopf vorging. Wenn er Napoleons Befehl missachtet und etwas schiefgeht, würde er mit Sicherheit hingerichtet werden. Andererseits kann ihm niemand einen echten Vorwurf machen, wenn er einfach nur dem Befehl seines Kommandanten folgt!
Ja, Fischer mochte keine irrationalen Stellungen, aber noch weniger mochte er, einen Bauern zu verlieren. Er sammelte lieber die Bauern seines Gegners ein, auch wenn es ihn in Schwierigkeiten brachte. Schließlich hat er ja unzählige Male den "vergifteten Bauern" im Najdorf geschlagen und die Partien dann gewonnen:
Angeblich ist seine Bilanz in dieser Eröffnung 20/20. Fischers Zug 14. f3 im Nachhinein zu kritisieren ist leicht, aber dieser Zug ist ein Eckpfeiler in der Strategie von Weiß im sizilianischen englischen Angriff, wie die folgende Partie zeigt:
Die Folgen von Grouchys Fehler sind bekannt:
Von der Seite stürzt gleichzeitig preußische Kavallerie in die ermattete, zertrümmerte Armee: der Schrei gellt auf, der tödliche: »Sauve qui peut!« Ein paar Minuten nur, und die Grande Armee ist nichts mehr als ein zügellos jagender Angststrom, der alles, auch Napoleon selbst, mitreißt. Wie in wehrloses, fühlloses Wasser schlägt die nachspornende Kavallerie in diesen rasch und flüssig rückrennenden Strom, mit lockerem Zug fischen sie die Karosse Napoleons, den Heerschatz, die ganze Artillerie aus dem schreienden Schaum von Angst und Entsetzen.
Fischer erging es nicht anders:
Es ist schon erstaunlich, wie nur ein einziger passiver Zug wie 14. f3 eine ganze Partie ruinieren kann, aber das passiert schon mal in rasiermesserscharfen Stellungen, in denen sich beide Gegner auf den gegenüberliegenden Seiten des Bretts angreifen.
Zwei Jahre nach dieser Partie wurde Fischer Weltmeister, aber wisst Ihr auch, was mit Grouchy passiert ist?
Und gerade in jener Stunde nach seiner versäumten Sekunde zeigt Grouchy – nun zu spät – seine ganze militärische Kraft. Alle seine großen Tugenden, Besonnenheit, Tüchtigkeit, Umsicht und Gewissenhaftigkeit werden klar, seit er wieder sich selbst vertraut und nicht mehr geschriebenem Befehl. Von fünffacher Übermacht umstellt, führt er – eine meisterhafte taktische Leistung – mitten durch die Feinde seine Truppen zurück, ohne eine Kanone, ohne einen Mann zu verlieren, und rettet Frankreich, rettet dem Kaiserreich sein letztes Heer. Aber kein Kaiser ist, wie er heimkehrt, mehr da, ihm zu danken, kein Feind, dem er die Truppen entgegenstellen kann. Er ist zu spät gekommen, zu spät für immer; und wenn nach außen sein Leben noch aufsteigt und man ihn zum Oberkommandanten ernennt, zum Pair von Frankreich, und er in jedem Amt sich mannhaft-tüchtig bewährt, nichts kann ihm mehr diesen einen Augenblick zurückkaufen, der ihn zum Herrn des Schicksals gemacht und dem er nicht gewachsen war.